Materialschlacht. © Ingo Hoehn.

 

La Vie Parisienne. Jacques Offenbach.

Opéra bouffe.

Hans Christoph Bünger, Amélie Niermeyer, Christian Schmidt. Bühnen Bern.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 8. September 2024.

 

 

> "Pariser Leben", die hintergründige, raffi­niert mehrschich­tige Musiktheater­konstruk­tion von Jacques Offenbach und seinen erfahrenen Librettisten leuchtet mit kaltem Strahl in den verrosteten Mechanismus der gesellschaftlichen Lügen. Kein Wunder, war Karl Kraus, der legendäre Kulturkritiker, davon so angetan, dass er an vielbesuchten literarischen Soireen vor versammelter Wiener Prominenz wie Alban Berg, Hermann Broch und Elias Canetti das Libretto in Form von Solorezitationen vorzutragen pflegte. Von diesem Hintergrund von Scharfsinn und Genialität ist nun aber an der aktuellen Stadttheater­produk­tion nicht das geringste zu spüren. Remmidemmi genügt, um das Premierenpublikum zu beglücken. So bietet das Haus am Korn­haus­platz statt "Pariser Leben" Berner Leben, das heisst Mast­kost anstelle von Haute Cuisine. Doch sieh, die Leute schmat­zen ihren Trog mit Behagen leer. Offen­sicht­lich kennt die Intendanz das Publikum und serviert ihm das Zukömmliche. E Guete! <

 

Dass die Intellektuellen und Philosophen "Pariser Leben" als Meisterwerk verehren, liegt daran, dass die Opéra bouffe zwei unterschiedliche Dimensionen aufs Theater bringt - und beide mit gleicher Souveränität. Auf der einen Seite gibt sich die Partitur heiter und mitreissend (jede Nummer ein Hit), auf der andern Seite das Libretto schwarz und ätzend. Ein harter, unversöhnli­cher Riss läuft mithin durchs Werk. Er entspricht dem Riss zwischen Sein und Schein, Wirklichkeit und Oberfläche... ausgebeuteten "working poor" und schamlos reichen Kapitalisten.

 

Unter diesem Vorzeichen zeigt die Operette lauter Gestalten, die etwas vorspielen. Die Sozialordnung stellt sie zwar auf die oder jene Stufe, aber insgeheim sind alle überzeugt, dass sie etwas anderes und Besseres sind als das, wofür man sie nimmt. – Wenn es sich ereignet, dass einzelne Würstchen aus sich heraustreten und heulen, sie seien verliebt, so sind sie in Wirklichkeit geblendet; das heisst preisgegeben der Manipulation. Das ist die wahrhafte Beschaffenheit des "Pariser Lebens", sagen Ludovic Halévy, Henri Meilhac und Jacques Offenbach mit unabweislicher Schärfe. Die Gesellschaft, für die sie schreiben, ist in einem Mass geschichtet, wie wir uns das in unserer egalitären Zeit gar nicht mehr vorstellen können.

 

In seinem Roman "Die Wasserfälle von Slunj" beschreibt Heimito von Doderer die Verhältnisse vor dem Ersten Weltkrieg – und damit auch die Ordnung des "Pariser Lebens":

 

Der Golfplatz hat Claytons [einem englischen Ingenieur mit seinem Sohn] in Wien gesellige und gesellschaftliche Anschlüsse vermittelt, vornehmlich in den grossbürgerlichen Kreisen der Industrie. Der hohe Adel, die sogenannte "erste Gesellschaft", erschien freilich nicht in solch einem bourgeoisen Club. Abgesehen davon hat die Wiener Gesellschaft – die "erste", die "zweite" (das hohe Beamtentum) und die "dritte" (die Unternehmer und Industriellen) – sich niemals gegen Fremde mit einer chinesischen Mauer umgeben, etwa wie in den patrizischen einstmaligen Hanse-Städten des Nordens.

 

"Ingenieure geniessen bei uns keinen gesellschaftlichen Rang", erklärte der junge Herr von Wasmut [Sohn eines Hofbeamten]. "Es ist bei einigen Berufen so. Zum Beispiel bei den Zahnärzten, den Gymnasialprofessoren oder den aktiven Offizieren der Infanterie. Solche Leute kommen in der Gesellschaft garnicht vor."

 

Je höher die "Schicht", desto "feiner" (das heisst: codierter) der "Ton". Bei der Wiedergabe von Konversation unterschied Goethe unter anderem zwischen "Adel, Geist, schöner Geist, guter Geist, Sensibilität, Geschmack, guter Geschmack, Richtigkeit, Schicklichkeit, guter Ton, Hofton..." Und am Höhepunkt des fünfundzwanzigsten Kapitels von Theodor Fontanes Roman "Der Stechlin" erfährt der bürgerliche Leser am eigenen Leib, dass er von den adeligen Codes ausgeschlossen ist. Hier die Stelle (zugleich das Kapitelende):

 

Stechlin ging. Armgard gab ihm das Geleit bis auf den Korridor. Es war eine Verlegenheit zwischen beiden, und Woldemar fühlte, dass er etwas sagen müsse. "Welch liebenswürdige Schwester Sie haben." Irmgard errötete. "Sie werden mich eifersüchtig machen."

"Wirklich, Komtesse?"

"Vielleicht... Gute Nacht."

 

Eine halbe Stunde später sass Melusine neben dem Bett der Schwester, und beide plauderten noch. Aber Armgard war einsilbig, und Melusine bemerkte wohl, dass die Schwester etwas auf dem Herzen habe. 

"Was hast du, Armgard? Du bist so zerstreut, so wie abwesend."

"Ich weiss es nicht, aber ich glaube fast..."

"Nun was?"

"Ich glaube fast, ich bin verlobt."

 

Mit dieser Art Codes spielt nun das "Pariser Leben" bis in die feinsten Verästelungen. In der Operette gaukeln Diener und Handwerker den ausländischen Touristen "erste Gesellschaft" vor. Als Untergebene kennen sie das Gebaren der Vornehmen aus direkter Anschauung; von morgens bis abends sind sie am Rand dabei und registrieren Stimmung und Benehmen der Herrschaften. Jetzt geben sie für die Fremden deren Ton und Haltung wieder.

 

In Offenbachs Theater aber sitzen Zuschauer, die auch nie dazugehört haben: die Angehörigen der Bourgeoisie. Immerhin sind sie so gut ausgestattet, dass sie auf das dienende Volk herabschauen können. Gleichzeitig verachten sie den Adel, der nicht arbeiten muss, um sein Leben zu verdienen.

 

Das Gelächter, das Ludovic Halévy, Henri Meilhac und Jacques Offenbach zu ihrer Zeit hervorriefen, nährte sich folglich aus drei Wurzeln: (1) Sozialneid wegen der Unerreichbarkeit der Oberschicht, (2) Verachtung wegen der Niedrigkeit ihrer Motive und (3) Behagen wegen der Trefflichkeit der Karikatur.

 

Doch wie kann man dieses hochkomplexe szenische Gebilde auf die Bühne bringen? "Heute gibt es weder Oberschicht noch Volk, nur arme Plebs und reiche Plebs", statuierte Nicolás Gómez Dávila.

 

Ein kritischer Ansatz wird das Denken des machistischen, kolonialistischen, hierarchischen weissen Ausbeuters denunzieren. Doch diese Inszenierungsweise leert das Stadt­theater. Das weiss man in Bern seit der Silvester­premiere des "Zigeunerbarons" vom 30. Dezember 1995 unter der Regie von Uwe Schwarz. Der Mann wurde kein zweites Mal in die Bundesstadt eingeladen. Also Vorsicht! Lieber Remmidemmi, Oberflächlichkeit und Materialschlacht. Damit kann nichts schiefgehen.

 

So bedienen nun Amélie Niermeyer und ihr Bühnenbildner Christian Schmidt die anspruchslose Berner Mittelschicht mit szenischer Mastkost. Zu hören gibt es nichts. Zu denken auch nicht. Nur zu glotzen. Wie sich das unbedarfte, aber publikumswirksame Konzept auswirkt, zeigen schon die ersten Töne, die aus dem Orchestergraben aufsteigen: dumpf und stumpf.

 

Unter der Stabführung von Hans Christoph Bünger marschiert das Berner Symphonieorchester gleich behäbig durch die Partitur wie das Volk durch die Lauben. Doch die harmlose Gemächlich­keit verhindert nicht, dass zwischen den Sängern und Instru­men­ta­listen zahlreiche Ungenauigkeiten aufkommen. Die deutsch gesprochenen Stellen sind schwer verständlich – und die fran­zösisch gesungenen Melodien überhaupt nicht. Alle geben sich mit lautem Ungefähr zufrieden.

 

Sorry, das ist nicht gut. Zumal Bern in den letzten Jahren mit einwandfreier Qualität bedient wurde. "Pariser Leben" aber geht in jeder Hinsicht daneben.

 

 

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Angeberei. 

Vulgarität. 

Remmidemmi. 

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