La Vie Parisienne. Jacques Offenbach.
Operette.
Grand Théâtre de Genève / Bernhard-Theater Zürich.
T!, 1, Januar 1991.
"Pariser Leben" in Zürich und Genf – ein Essay
Die Wirkung der starken Worte
"Wenn, was ich sage, nicht neu ist, so hab ich es doch bei neuem Anlass recht lebhaft gefühlt."
(Goethe, Italienische Reise)
Die vergangenen Festtage gaben mir Gelegenheit, mit Kindern ins Theater zu gehen. Gezeigt wurden die üblichen Märchenaufführungen. Für mich als Erwachsenen waren sie eher uninteressant und belanglos. Fasziniert aber war ich von dem, was sich bei den Kindern abspielte: Ich konnte nämlich die Wirkung starker Worte auf empfängliche Seelen beobachten.
Wurde auf der Bühne von einem Räuber gesprochen, so ging ein Ruck durch die Kinderschar. Das Publikum horchte auf und war gebannt durch das Wort "Räuber". Dieser Umstand war es, der mich frappierte: dass ein Wort allein genügte, um Wirkung zu erzielen. Das Theater brauchte die Sache selbst gar nicht zu zeigen, nein, die Stärke des Worts war ausreichend, um das Publikum in Bann zu schlagen.
Dieses Phänomen, das ich am Kindernachmittag zum ersten Mal beobachtete, ist gewiss nicht neu. Dass es einzelne Worte gibt, die stärker wirken als andere, wussten schon die Verfasser der Märchen, die Gebrüder Grimm. Und so rechneten sie an den Angelpunkten stets mit der Wirkung der starken Worte. Ein Beispiel: "Da ging auf einmal die Türe auf, und eine alte Frau kam heraus, die wackelte mit dem Kopfe. Die Alte aber war eine Hexe." Oder: "Wie Rotkäppchen in den Wald kam, begegnete ihm der Wolf."
"Hexe" und "Wolf" gehören für die Kinder offensichtlich zu den starken Worten, und die Psychoanalytiker wissen auch längst schon, warum. Interessant ist nun aber, dass auch die Erwachsenen der Wirkung starker Worte unterliegen. Das zeigt folgende Episode aus dem "Grünen Heinrich": "Ich sass einst hinter dem Tische, mit irgendeinem Spielzeuge beschäftigt, und sprach dazu einige unanständige, höchst rohe Worte vor mich hin, deren Bedeutung mir unbekannt war und die ich auf der Strasse gehört haben mochte. Eine Frau sass bei meiner Mutter und plauderte mit ihr, als sie die Worte hörte und meine Mutter aufmerksam machte. Sie fragte mich mit ernster Miene, wer mich diese Sachen gelehrt hätte, insbesondere die fremde Frau drang in mich, worüber ich mich verwunderte."
Der Grüne Heinrich ist verwundert. Da glaubte er, spielverloren, gleichgültige Worte vor sich hin zu sprechen, und nun zeigt ihm die Reaktion der Erwachsenen, dass einige dieser Worte die Macht haben, Mutter und Nachbarin so zu mobilisieren, dass sie sich ernstlich besorgt dem Kind zuwenden.
Die Episode zeigt auch, dass es auf den Inhalt der Worte nicht ankommt. Erst der Kontext bestimmt, ob "Hexe" oder "Gopferdammi" Wirkung erhält. Entscheidend ist also das Publikum, welches die starken Worte vernimmt. Die Erwachsenen wären kalt geblieben, hätte Heinrich "Räuber" vor sich hingemurmelt, während Heinrich vom "Gopferdammi" der Erwachsenen in keiner Weise affiziert wurde.
Wir können also annehmen, dass starke Worte erst dadurch zu ihrer Wirkung kommen, dass es beim Publikum heikle Punkte gibt, die das Gespräch zu vermeiden hat. Der Volksmund umspielt diese Tatsache mit dem Diktum, man solle "im Hause des Gehängten den Strick nicht erwähnen."
Die heiklen Punkte aber, die durch starke Worte gereizt werden, gleichen schlecht verheilten Narben, die sich über unterdrückten Gefühlen gebildet haben. Beim Kind, das Grimm-Märchen liest und beim Wort "Hexe" erschauert, vibriert die Angst mit, seine Eltern könnten es verlassen und einer fremden Person preisgeben, die ihm wehtun will. Und bei Frau Lee im "Grünen Heinrich" spielt die unterdrückte Angst mit, sie könne als alleinerziehende Mutter mit ihrem Buben nicht zurechtkommen und sie werde ihn an die Behörden verlieren.
Unterdrücktes also gibt den starken Worten ihre Kraft. Das illustriert auch eine Erinnerung Friedrich Dürrenmatts: "Wurde während des Krieges in der Schweiz 'Don Carlos' gegeben, brach bei der Forderung des Marquis Posa 'Geben Sie Gedankenfreiheit' das Publikum in tosenden Applaus aus." – Gedankenfreiheit war während des Dritten Reichs ein starkes Wort, weil sie unterdrückt war. Und heute? Dürrenmatt: "Heute schweigt das Publikum. Gedankenfreiheit haben alle, dem Theater sind durch seine Freiheit die Zähne gezogen, als zahnlose Bestie fletscht es uns entgegen."
Der Hinweis auf Schiller lässt uns entdecken, dass starke Worte auf der Bühne viel häufiger vorkommen als im Leben. Das ist kein Zufall. Denn wer im Leben starke Worte braucht, muss mit Scherereien rechnen. "Der Grüne Heinrich" ist dazu nur eine harmlose Illustration. Die Freiheit der Kunst aber lädt dazu ein, unangenehme Sachverhalte auszusprechen oder zumindest zu umspielen, und dieses Spiel mit heiklen Punkten erklärt die Häufigkeit starker Worte auf dem Theater.
Mit der Wirkung starker Worte nun rechneten auch Henry Meilhac und Ludovic Halévy, als sie für Offenbach das Libretto zur "Vie Parisienne" schrieben. Ein Beispiel: Der schwedische Baron von Gondremack. Unter der Fuchtel eines erzpuritanischen Vaters erzogen, kam er jungfräulich in die Ehe. Nun, in Paris, will er das Versäumte nachholen und die Frauen kennenlernen: "Je veux m'en fourrer jusque là", singt er, und das an sich unverdächtige Wort "fourrer" lässt Offenbach den Sänger wiederholen, so dass es eben durch den Umstand der Wiederholung und den Umstand, dass "fourrer, fourrer" in den Refrain verlegt wird, die Qualität eines Resümees erhält; das Resümee von Gondremarcks sexuellem Nachholbedarf. Auf diese kunstvolle Weise wird "fourrer" durch den Kontext und durch Offenbachs Kunst in "Pariser Leben" zum starken Wort, zu einem starken Wort für die Bürger des Second Empire. Doch heute, wo niemand mehr jungfräulich in die Ehe kommt und wo für alle Erwachsenen sexuelle Freiheit besteht, sind der "Vie Parisienne" durch diese Freiheiten die Zähne gezogen, und als zahnlose Bestie fletscht sie uns entgegen...
Ein Theater also, das Offenbachs "Vie Parisienne" aufführt, kann nicht mehr auf die Wirkung ihrer raffiniert empordestillierten starken Worte vertrauen. Es muss sich mit Surrogaten behelfen, mit Gags. Das heisst, die Wirkung, die vordem durchs Wort zustande kam, ohne dass die Sache selbst gezeigt zu werden brauchte, muss nun durch optische Effekte erzielt werden, für die das Wort dafür im Libretto fehlt.
Ein Beispiel: Frick, der Schuster. Als einfacher und ungehobelter Mann tritt er auf, der Stiefel abliefern will. Doch nun verlangt es die Geschichte, dass ausgerechnet dieser beschränkte Handwerksmann im zweiten Akt den Tafelmajor an der "table d'hôte" im "Grand Hôtel" spielen muss.
Im Jahr 1866 wird der Gedanke an diese Inkongruenz das Pariser Publikum elektrisiert haben: Einer, der selbst keinen Schliff hat, soll die Etikette selbst verkörpern! Heute aber, 125 Jahre nach der Uraufführung, wissen 99 Prozent der Zuschauer nicht mehr, was eine "table d'hôte" ist, geschweige denn, wie man sich an ihr benimmt. Damit aber ist Fricks Verwandlung vom Schuster in einen Tafelmajor um ihre Wirkung gebracht.
Die Regisseure, die in Genf und Zürich über die Festtage "Pariser Leben" herausbrachten, griffen denn auch merkwürdigerweise zur gleichen Notlösung. Im Grand Théâtre wie im Bernhard-Theater erscheint Frick mit einem riesigen Küchenmesser und martialischen Gebärden.
Um also die verlorene Wirkung der starken Worte zu kompensieren, greift das Theater zu optischer Ausstattung. Denn die Allusion an einen gesellschaftlichen Skandal genügt nicht mehr, um das Publikum zu packen. Sondern nach Auffassung der Regisseure sind die Zürcher und Genfer nur noch dadurch zu kitzeln, dass man sie mit Anspielungen an Gewalt und Tod überrascht.
So treibt Frick in Genf mit seinem Messer den Baron Gondremarck an die Wand. Und jetzt, wo der eingeschüchterte Adlige reglos stehen bleibt, zieht der "Tafelmajor" ein Messer nach dem andern aus seinem Gemüsekorb und wirft die Klingen um die Silhouette des Barons, der damit zur Zielscheibe für eine perfekte Messerwerfernummer verwandelt wird.
Das artistische Kabinettstück trifft die Szene voll ins Schwarze. Doch ihre Wirkung steht in keinem Verhältnis zum Inhalt der Operette. Die Messerwerferei liesse sich ohne Abbruch der Wirkung von Frick lösen und an jeder beliebigen Stelle plazieren. Sinnvoll wäre sie, wenn schon, einzig an jener Stelle, wo der maître d'hôtel im Café Anglais die jungen Kellner instruiert, bei allen Vorgängen, die sie sehen werden, diskret zu bleiben und die Augen zu schliessen: "Fermez les yeux". An dieser Stelle könnte er die Burschen, um ihre Unerschütterlichkeit zu erproben, mit Messern bewerfen...
Doch indem ich den Gag weiterspinne, unterwerfe ich mich der Auffassung, "Pariser Leben" sei als Operette, als heiteres Stück des Musiktheaters, nicht mehr zu retten. Ist das der Fall? Vermutlich schon. Ohne optische Zusätze, ohne Zirkusnummern und Bunny Girls erschiene "La Vie Parisienne" heute vermutlich als todtrauriges Stück, das den Gegensatz zwischen arm und reich thematisiert und die Lügen denunziert, mit denen sich die Menschen in ihren engsten Bindungen gegenseitig betrügen.
Dass ein heiteres Stück seinen Charakter unter dem Blick der Nachwelt verändert, ist kein Sonderfall in der Theatergeschichte. Man denke etwa an Klaus Michael Grübers "Sparschwein"-Inszenierung. Und so möchte ich denn die These wagen, dass mittelmässige Stücke, die sich in Extremen bewegen (im Extrem der Fröhlichkeit, im Extrem des Schreckens oder im Extrem der Trauer) die Tendenz haben, in späteren Zeiten das Vorzeichen zu wechseln. Man lese die Rührstücke des Sturm und Drang, ohne zu lachen! "Robert Macaire", ein Melodram des 19. Jahrhunderts, kam nur dadurch zu Erfolg, dass es der Schauspieler Frédérick Lemaître als Buffo-Komödie spielte.
So betrachtet, drängt sich die Überlegung auf, dass "La Vie Parisienne" nur dann überleben wird, wenn mit dieser Operette eine analoge Verwandlung geschieht. Ich jedenfalls warte auf den genialen Regisseur des 21. Jahrhunderts, der es wagt, "Pariser Leben" auf seinen harten realistischen Kern hin zu inszenieren und die bürgerliche Tragödie, die sich dahinter verbirgt, herauszuarbeiten. In der Zwischenzeit bleibt jede Aufführung von "Pariser Leben", das zeigten die Aufführungen von Zürich und Genf, die Vorführung eines aufgedonnerten Leichnams.