Parsifal. Richard Wagner.
Bühnenweihfestspiel.
Marko Letonja, Amon Miyamoto. Opéra national du Rhin, Strassburg.
Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 27. Januar 2020.
Mit "Parsifal" schrieb Richard Wagner keine Repertoireoper, sondern ein "Bühnenweihfestspiel". Noch in den 1980er Jahren wurden die Aufführungen, wie es die Bayreuther Tradition verlangte, vom deutschsprachigen Publikum still und andächtig aufgenommen, ohne zu klatschen. Zumindest nach dem ersten und zweiten Akt. Ein Zettel, den die Platzanweiser verteilten, machte darauf aufmerksam. Das Werk sollte sich, seinem religiösen Charakter gemäss, in schlichten Szenen entfalten, die Andacht hervorriefen: Eine Waldlichtung, ein Waldsee, eine Burg. Die Waschung der Füsse. Die Salbung des Hauptes. Das heilige Abendmahl.
Wagners letztes Bühnenwerk ist grundiert vom Mittelalter-Bild, das Novalis in seinem Aufsatz "Die Christenheit oder Europa" gemalt hat: "Mit welcher Heiterkeit verliess man die schönen Versammlungen in den geheimnisvollen Kirchen, die mit ermunternden Bildern geschmückt, mit süssen Düften erfüllt und von heilig erhebender Musik belebt waren. In ihnen wurden die geweihten Reste ehemaliger gottesfürchtiger Menschen dankbar in köstlichen Behältnissen aufbewahrt. – Und an ihnen offenbarte sich die göttliche Güte und Allmacht, die mächtige Wohltätigkeit dieser glücklichen Frommen, durch herrliche Wunder und Zeichen. So bewahren liebende Seelen Locken oder Schriftzüge ihrer verstorbenen Geliebten und nähren die süsse Glut damit bis an den wiedervereinigenden Tod. Man sammelte mit inniger Sorgfalt überall, was diesen geliebten Seelen angehört hatte, und jeder pries sich glücklich, der eine so köstliche Reliquie erhalten oder nur berühren konnte. Hin und wieder schien sich die himmlische Gnade vorzüglich auf ein seltsames Bild oder einen Grabhügel niedergelassen zu haben. – Dorthin strömten aus allen Gegenden Menschen mit schönen Gaben und brachten himmlische Gegengeschenke: Frieden der Seele und Gesundheit des Leibes, zurück."
Der sakralen Schlichtheit des Werkgedankens (wie ihn in den Akten 1 und 3 auch die Musik ausdrückt), widerspricht nun in Strassburg Amon Miyamotos Inszenierung aufs entschiedenste. Sie reichert die Aufführung mit allen Ingredienzien an, welche das europäische – namentlich das deutsche - Regietheater in den letzten vierzig Jahren entwickelt hat. Das Vorspiel wird benutzt, um durch stummes Spiel eine Art Vorgeschichte einzubringen: In einem Boudoir scheint sich zwischen der Darstellerin der Kundry und einem Parsifal-Statisten im Matrosenanzug etwas Inzestuöses anzubahnen. Doch dann geht die Leinwand nieder. Nun zoomt das Video durch den Andromedanebel auf den europäischen Teil der Erdkugel, wo der deutsche Wald steht. Danach zeigt die Bühne die Räume einer anthropologischen Ausstellung, die mit "l'humanité" überschrieben ist. Hier wirft sich eine Harvey-Weinstein-Karikatur mit Wucht über eine Aufseherin: Huch, MeToo! Der jugendliche Parsifal-Statist bekommt das alles mit. Damit ist das Vorzeichen gesetzt, um die Opernhandlung als Phantasie eines Heranwachsenden zu interpretieren, der sich im Verlauf von vier Stunden und vierzig Minuten zum leidgeprüften Erwachsenen entwickeln wird.
Die Inszenierung bringt also Rahmen, Rahmen, Rahmen. Mit dieser Verschachtelungstechnik verbindet sie die biografische, individuelle Vorgeschichte, angesiedelt in der Entstehungszeit des Werks und gezeichnet von der Sexualneurose der Epoche, mit der Geschichte der Evolution, repräsentiert durch einen Statisten im Affenkostüm. Ausserdem wird das Ganze durch Weltall-Aufnahmen eingebettet in die universale Dimension. Zudem wird die Handlung gespiegelt und gebrochen durch die Objekte der Ausstellungs-Szenerie und die Verdoppelung Parsifals in einen erwachsenen, singenden Darsteller und einen stummen Jugendlichen. Mit diesen Zusätzen versehen rutscht das "Bühnenweihfestspiel" von der Gralswelt hinab in den Basar. Doch ist der Ansatz vielleicht richtig für eine Koproduktion der Strassburger Oper mit der Tokyo Nikikai Opera Foundation. Wer weiss.
Gegenüber der optischen und konzeptionellen Überladung nimmt das Orchester, geleitet von Marko Letonja, die Tonspur zurück bis zur Unbeträchtlichkeit. Während Wände drehen und Zwischenvorhänge auf und niedergleiten, ertönt unkonturierte Begleitmusik, als ginge es darum, das Übermass von szenischer Interpretation durch farblose Neutralität auszugleichen. Inspiration wird man jedoch in beiden Fällen keine finden: Weder im szenischen Zuviel noch im orchstralen Zuwenig.
Das Wunder, das die Aufführung trotzdem bis an die Weltspitze hievt, vollbringen die Sänger. Gegenüber ihrer Leistung greift jeder Superlativ zu kurz. Hier gibt's nur eins: Hinfahren, anschauen, anhören, staunen. – Schon das erste Wort, das auf der Bühne gesprochen wird, lässt aufhorchen: "He! Ho!" Gurnemanz rüttelt die Knappen aus dem Schlaf. Ante Jerkunica hat die gerade, hochaufgeschossene Statur eines Jochanaan. Nichts in seiner asketisch-athletischen Erscheinung erinnert an den onkelhaften Bass der gemütlichen Geschichtenerzähler, sondern Jerkunica zeichnet einen modernen, nachvollziehbaren Menschen. Und seinen Gedanken gibt die Stimme mühelos Ausdruck. Phänomenal. Und dann erst die Wortverständlichkeit!
Thomas Blondelle durchlebt als Parsifal den Bogen der Rolle vom tumben Toren zum König der Gralsburg mit so hohem Engagement, dass man sich nicht nur vor seiner gesanglichen, sondern auch vor seiner darstellerischen Leistung verbeugen muss. Der Mensch, den er gestaltet, wird sich im Gedächtnis einbrennen. Mit ihm ist "Parsifal" nicht nur eine Oper, sondern eine Begegnung. Dasselbe gilt für Kundry, verkörpert durch Christianne Stotijn. Dasselbe für Amfortas (Markus Marquardt). Dasselbe für Titurel (Konstantin Gorny). Dasselbe für Klingsor (Simon Bailey).
Fazit: Es ist dem Opernhaus des Jahres gelungen, für "Parsifal" eine Sängerbesetzung zu vereinigen, die seinem Titel höchste Ehre einlegt. Über den Rest schweigt man besser.