No Sex. Toshiki Okada.
Schauspiel.
Toshiki Okada, Dominic Huber. Münchner Kammerspiele.
Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 18. Januar 2020.
Eben noch brachte die "Süddeutsche Zeitung" einen Kommentar zu Japans anhaltender wirtschaftlicher Schwäche. Sie ist zurückzuführen auf Sklerose. Nur noch alte Menschen. Dabei wäre nichts dringender als Innovation: "Das Land muss sich neu erfinden." Doch die Jugend fehlt. Die Leute haben "No Sex". Damit ist auch eine Uraufführung an den Münchner Kammerspielen betitelt. Geschrieben und inszeniert hat sie der Japaner Toshiki Okada.
Die Bühne des Schweizers Dominic Huber zeigt eine Karaoke-Bar irgendwo im Land der aufgehenden Sonne. Da erleben der Besitzer und seine Putzfrau eine merkwürdige Begegnung. "Seltsam", nennt sie der Wirt. Dann "komisch". Zuletzt "neu". Nie zuvor ist er jungen Männern begegnet, die das nicht interessiert, was alle andern. Aber jetzt sind sie, wie Aliens, in seiner Bar gelandet. Und das Publikum der Kammerspiele kann studieren, wie sie ticken (wenn es nicht vorzieht, sie einfach lustig zu finden).
Die vier sehr attraktiven leptosomen Männer verstehen sich als Cluster. Darum weichen sie in Sprache und Verhalten von den andern ab. Dass sie Aussenstehende befremden, verstehen sie und entschuldigen sich dafür ("Habe ich Sie etwa verletzt?"). Denn sie sind ungewöhnlich reflektiert. Ihre Redeweise erinnert an Hochbegabte, die ein Studium in Philosophie, Linguistik und Soziologie sowie drei verschiedene Behandlungen in Psychotherapie abgebrochen haben. Aus diesem Grund sind sie jetzt sprachlich jedem über – auch sich selbst.
Liebe kennen sie nur als Zitat. Sie selbst nennen das Phänomen "Resonanz" und stehen ihm skeptisch gegenüber. Was sich da ereignet, löst in ihnen bloss Anlass zur Analyse aus, nicht zum Beischlaf. "Mam'zelle Nitouche" (Fräulein Rührmichnichtan) heisst eine der berühmtesten französischen Operetten aus dem Jahr 1883, die bis heute gespielt wird. Der Titel ist sprichwörtlich geworden für prüde, abweisende Menschen. Toshiki Okada führt jetzt gleich vier solcher Mam'zelles auf die Bühne. Ihre Verrenkungen aber stammen nicht aus dem Variété, sondern aus der überaus zeremoniösen japanischen Umgangsweise. Sie erinnert ans manische Verhalten, dem man bei uns in den psychiatrischen Universitätskliniken begegnen kann.
Indem nun in der Karaoke-Bar Liebeslied auf Liebeslied gesungen – und beredet – wird, weckt die Vorstellung durch den ausgestellten Triebstau in der Zuschauerschaft präzise Vorstellungen von dem, was sie nach der Vorstellung noch erleben möchte. Und das wiederum erklärt, warum "No Sex" im Lauf des Abends immer geiler wird und warum im letzten Sommer die Nonnen, so erzählt Tilly, die Garderobiere, aus der Aufführung geflüchtet sind.
Nicht auszudenken, was passieren würde, wenn das Stück nicht in München, sondern in Japan gezeigt würde. Vielleicht würde es dazu beitragen, das Problem der Überalterung innert einer Generation zu lösen. Dann wäre das Theater nicht länger bloss Unterhaltung, sondern Therapie.