Der Chor und das Mädchen. © Martin Sigmund.

 

 

 

Antigone-Tribunal. Leo Dick.

Musiktheater-Projekt.                  

Blanka Rádóczy. Stuttgarter Staatsoper.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 18. Januar 2020.

 

 

Dass diese "Antigone" fad ausfallen werde, verrät schon der Spielplan der Stuttgarter Staatsoper. Da steht nämlich: "Musiktheater-Projekt für alle ab 16 Jahren". Wer beim Lesen zusammenzuckt, bekommt recht. "Ab 16 Jahren" bedeutet, wie befürchtet, dass die Produktion mit einem Bein in der Schule steckt. Schule aber bedeutet Moralkeule, Betulichkeit, Langeweile.

 

Andersherum: Dem "Antigone-Tribunal" fehlen Pfiff, Schmiss und Frechheit. Stattdessen hat das Theaterprojekt vornehme erzieherische Absichten. Die Zuschauer sollen am Ende Stellung beziehen: Wer hat Recht? Antigone? Kreon? Das Volk? So, wir auf der Bühne machen jetzt Schluss. Diskutiert das auf dem Heimweg miteinander!

 

Mein lieber Schwan, wo sind wir gelandet? Im Stuttgarter JOiN. Das Akronym steht für "Junge Oper im Nord", einer Aussenstelle der Staatsoper in einem Geschäftsviertel von trostlos funktionaler Architektur; abends ausgestorben wie der Mars. Vier Besucher, Rentner, fahren mit der U-Bahn nach Hause. Der Rest hat irgendwo ein Auto oder einen E-Roller stehen.

 

Gesehen haben sie eine Produktion, die 80 Minuten lang versuchte, alles richtig zu machen. Da liegt die Krankheit der Lehrer. Das Verantwortungsgefühl hindert sie am Herumalbern und Spielen. Der Anspruch der Pädagogen ist zu hoch. Sie meinen, sie könnten mit Wertvollem die jugendlichen Seelen entflammen, zum Beispiel mit wertvoller Antike. Diese Fehleinschätzung aber macht ihre Lektionen langweilig – und auch die 80 Minuten im JOiN.

 

Das Missverständnis beginnt schon mit der Musik: "Die Echokammern in Antigone-Tribunal sind elektroakustische Zuspitzungen, die kurze Formeln aus der Komposition aufgreifen und zu Klangcollagen potenzieren. An einigen Stellen bleibt die live gespielte Musik auf der Ebene der Zuspielung auf diesen Formeln hängen, wenn auch immer nur für kurze Zeit. Diese eigenständige Klangebene nimmt Bezug auf Echokammern und Filterblasen im Internet – das Phänomen also, dass wir in unserer Kommunikation über die sozialen Medien zunehmend ausschliesslich mit Spiegelungen und Verstärkungen unserer Meinung 'konfrontiert' sind." Das erklärt Leo Dick bei der Frage nach den "musikimmanenten Gesetzmässigkeiten beim Komponieren". Doch die wirkliche Frage lautet: Who cares?

 

Zu Leo Dicks Musik wird schön, ja wirklich schön, wenn auch atonal, gesungen. Das Auftragswerk der JOiN verlangt eine Bass- (David Kang) und zwei Frauenstimmen (Alice Rossi, Deborah Saffery), dazu ein Dutzend Männer und Frauen, die den "Chor der Bürger*innen" mimen. Sie alle müssen aufpassen, dass sie den Takt behalten, wenn die "Transparenz der Instrumentalsoli immer wieder für Momente über die Echokammern von einem immersiv gedachten Sound überlagert" wird. Bei dieser anspruchsvollen Lage wird die ganze Vorstellung hindurch im ersten Gang gefahren, und nie drückt die Regisseurin Blanka Rádóczy (auch Bühnenbild) aufs Gas. Mein lieber Schwan! Wie anders wäre es herausgekommen, wenn das Projekt nicht für Menschen ab 16 Jahren, sondern mit Menschen ab 16 Jahren realisiert worden wäre?

Echokammern und Filterblasen. 

 
 
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