Nirvanas Last.
Konzert-Schauspiel.
Münchner Kammerspiele.
Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 18. Januar 2020.
Wie üblich hat der Abend keine Pause. Damit wirft das Buffet nichts ab, und dem Theater entgehen Einnahmen. Anderseits können jene Zuschauer nicht flüchten, die ein Schauspiel erwartet haben und jetzt einem Liederabend gegenübersitzen. Sie müssen sich still halten wie damals, als sie von der Grossmutter an die Stadtbachstrasse 10 ins Vereinshaus Gnadenheim mitgenommen wurden, wo sich der evangelische Brüderverein zur Versammlung traf. Es ging da immer um Erlösung durch das Opferlamm, und die Gläubigen erbauten sich an mehrstrophigen Liedern wie "Bis hierher hat mich Gott gebracht": "Hilf mir an all und jedem Ort, / Hilf mir durch Jesu Wunden. / Damit sag ich bis in den Tod: / Durch Christi Blut hilft mir mein Gott; / Er hilft, wie er geholfen."
An den Münchner Kammerspielen geht es jetzt nicht um Lebenshilfe durch den himmlischen Vater, sondern durch Nirvana. Das ist der Name einer Grunge-Band, die von 1987-94 existierte. "Sie ist", sagt das Programmheft, "Ausdruck eines verzweifelten Lebenswillens. Ich will nicht entmutigt sein, ich bin lieber wütend!" Am 1. März 1994 gab Nirvana auf dem ehemaligen Flughafen München-Riem ihr letztes Konzert. Heute wird es an der Maximilianstrasse 26-28 nachgespielt. " 'Nirvanas Last' erforscht" sagt das Programmheft, "was es bedeutet, die ehemals jugendliche Protestkultur in die Kammer 1 der Münchner Kammerspiele zu tragen".
Im Unterschied zur Arbeit am musikwissenschaftlichen Seminar erfolgt die "Forschung" an den Kammerspielen nicht begrifflich, sondern mimetisch. Es geht nicht um Erkenntnis durch Zerlegung und Analyse, sondern ums Mitschwimmen in Assoziationen, Erinnerungen und Gefühlen. Vier schöne, begabte Mitglieder des Ensembles tragen Lied um Lied von Nirvanas letztem Abend vor, insgesamt zwanzig Nummern. Die Arrangements von Paul Hankinson reichern den Klang durch verschiedene Instrumente bis zum Schluss an.
Die Erziehung zum Stillsitzen hilft das Ritual ertragen, auch wenn man es nicht versteht: "Schaut mich an wie Fische, / wenn ich schwächele. / Eingeschlossen wochenlang / in deiner Herz-Schatule [eigentlich: Schatulle]. / Reingezogen worden / in deine Asphaltfalle. / Könnt ich doch deinen Krebs aufessen, / wenn du dunkel wirst." Während sich die Gemeinde an diesen Worten erbaut, flüstert Grossmamas Stimme: "Du gehörst nicht zu den Gotteskindern. Du bist ein Weltkind. Ich bitte Gott jeden Tag um ein Wunder." Doch ach, das Gebet bleibt selbst am Liederabend der Kammerspiele unerhört: "Dieses Volkes Herz ist verstopft, und ihre Ohren hören übel" (Matthäus 13.15).