Amphitryon. Heinrich von Kleist.
Lustspiel.
Julia Hölscher. Residenztheater München
Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 18. Januar 2020.
In der Epoche Kleists schauten die Leute zu den Autoritäten hinauf. Die Gesellschaft war hierarchisch gegliedert. Sie reichte von den Kaisern und Königen über die Herzöge und Grafen, Feldherren, Generäle und Obersten bis hinab zu den Bürgermeistern, Schulzen und Pastoren. Ihnen gegenüber hatte das Volk das Paulus-Worte zu beherzigen: "Seid untertan der Obrigkeit, denn es ist keine Obrigkeit ohne von Gott."
Wer an der Spitze stand, erfuhr Ehrfurcht und Anbetung: "Wenn er erschien in der sehr schönen und prächtigen Uniform seines Regiments, sei es zu Fuss, sei es zu Pferde (und nie auf einem andern als dem allerschönsten), so war es nicht anders, als wenn der vornehmste Herr der Welt, der schönste und der Kriegsgott selbst sich sehen liess." So schildert General Friedrich August Ludwig von der Marwitz in seinen Memoiren den preussischen Prinzen Louis Ferdinand (1772-1806). Und in einem Brief von 1781 beschreibt der Schweizer Historiker Johannes von Müller den hessischen General Martin Ernst von Schlieffen mit den Worten: "Es ist einer der schönsten Offiziere der schönsten Truppen Deutschlands."
Dieser obrigkeitsfreundlichen Sicht widersetzt sich nun Julia Hölschers "Amphitryon"-Produktion mit Vehemenz. Die Aufführung hatte vor einem Jahr in Basel Premiere. Intendant Andreas Beck nahm sie am Ende seiner Direktionszeit mit ans Residenztheater München, und da läuft sie weiter. Es geht immer noch um den thebanischen Feldherrn Amphitryon und den Göttervater Jupiter. Doch schaut sie an, sagt die Inszenierung; schaut sie an, diese Grossen! Was kommt denn zum Vorschein, wenn man sie auszieht? Nichts als bleiches, altes, quappiges Fleisch. Und vor dem habt ihr Ehrfurcht? Pfui!
So entpuppt sich Jupiter auf der Bühne des Residenztheaters als notgeiles Stinktier mit furchterregendem Wanst. Roh dreht er die Gesichter der Menschen zu sich und stösst ihnen, egal ob Frau oder Mann, die Zunge tief in den Schlund. Bevor er in den Olymp auffährt, entledigt er sich des Kostüms und beginnt nackt auf der Hinterbühne zu wichsen. (Beiläufig: Warum ziehen alle Regisseurinnen die Männer aus, wenn auch in der Regel die jungen, gut gebauten, und nicht, wie hier, die angejahrten?)
Verständlich, dass so ein hässlicher Bock sich verwandeln muss, wenn er Sex haben will: In einen Adler mit Ganymed, in einen Stier mit Europa, in einen Schwan mit Leda. Mit Alkmene nimmt er die Gestalt Amphitryons an. Denn wenn sie ihn sähe, wie er ist, würde sie davonlaufen; nicht bloss aus ehelicher Treue, sondern aus Abscheu.
Mit dem Feldherrn steht es nicht besser: Bauch, Vollmondgesicht, strähniges Haar. Und Macho auch er. Nach gewonnener Schlacht ist sein erster Gedanke, den Diener vorauszuschicken mit dem Befehl an die Gemahlin, sie solle sich zurechtmachen, um ihn zu empfangen. Er hat, bedingt durch die militärische Zucht, eine volle Samenblase; die will er zuhause gleich leeren. Alkmene wird also bedrängt von zwei Männern, die mit ihren weissen, mächtigen Wampen an die Herrscher Trump und Johnson erinnern.
Eine Komödie aber, die mit der Frau als Opfer spielt, sollte man heute nicht mehr aufführen, protestierte die "Süddeutsche Zeitung" nach der Münchner Premiere. Denn bei diesem Thema gebe es nichts zu lachen. Das sagt auch die Inszenierung und kürzt die komischen Szenen auf der Dienerebene von Charis und Sosias stark zusammen. Was bleibt, ist das Grauen, mit welcher Impertinenz die Oberen mit dem Menschenmaterial umgehen. Genauso rotzig wie die Regisseurin mit der Vorlage. Eins spiegelt sich im andern.
Von 2015-2019 war Julia Hölscher Hausregisseurin am Theater Basel. Nun bekleidet sie dieselbe Funktion am Bayerischen Staatsschauspiel. Ausserdem ist sie Dozentin für Regie und Schauspiel an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Frankfurt a.M., an der Theaterakademie Hamburg und an der Hochschule der Künste Bern. Macht, Macht, Macht. Es wird Zeit für den Aufstand der jungen Begabten gegen das Establishment.
Aber wer ist wer?
Das ist die Frage.