Orest. John von Düffel.
Tragödie.
Sophia Aurich, Kim Zumstein. Konzert Theater Bern.
Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 19. Dezember 2019.
Die Schweizer Erstaufführung findet in Vidmar 2 statt. Das ist der Raum mit der Säule. Sie steht prominent in der Mitte und zwingt die Regieteams, um sie herum zu inszenieren. Vidmar 2 fasst nur wenige Zuschauer. Die kleine Spielstätte dient als Übungsklavier für die Anfänger. Heute darf Sophia Aurich. Die 27jährige ist seit zwei Spielzeiten "feste Regieassistentin" an Konzert Theater Bern. Mit "Orest" legt sie ihre zweite Regiearbeit vor.
Sophia Aurich löst das Problem mit der Säule, indem sie sie zur Raumteilung benutzt. Dort, wo sie steht, beginnt der Zuschauerbereich. Die Sitze steigen leicht an – aber nicht genug, dass man von der zweiten Reihe an noch bequem über den Kopf des Vordermanns oder der Vorderfrau blicken kann, vor allem, wenn sie Dutt tragen. Sobald die Schauspieler knien oder liegen, erlebt man deshalb das Stück als Hörspiel.
"Orest", die Bearbeitung von John von Düffel nach Sophokles, Aischylos, Euripides beginnt in der Fassung von Sophia Aurich damit, dass sie lauter Bekanntes in Erinnerung ruft: Klytämnestra, Agamemnon, Ägisth, das Beil, Elektra, Orest. Gemessenen Schritts wird das erzählt; irritierend indes das Bühnenbild (Kim Zumstein): Es erinnert an ein Aquarium – und gleichzeitig an Ludwig Mies van der Rohes Barcelona-Pavillon. In dieser Glasarchitektur wird nun eine seltene Spezies ausgestellt: die Familie jener antiker Royals, die unter dem Namen "Atriden" in die Kulturgeschichte eingegangen sind.
Hinter Glas bewegen sich anfangs auch die Schauspieler. Sie stehen nicht in der Rolle, und sie stehen nicht im Leben. Sie stehen auf der Bühne. Und die Bühne erweist sich als Zwischenreich der Imagination, das zwischen Antike und Gegenwart vermittelt. Da hantieren die Protagonisten mit Putzspray und Mikrofasertüchern. Sie reinigen die Glaswände von den Kritzeleien vergangener Aufführungen – oder sagen wir genauer: vorangehender Aufführungsversionen. Die Inszenierung nämlich stellt den Gedanken dar, dass die Orestie schon viele, viele Male zur Aufführung gekommen ist, mal in der, mal in jener Beleuchtung, und immer noch hat sie keine (Er-)Lösung gefunden.
Da wird es unversehens interessant. Klytämnestra wirft Elektra vor, sich ein falsches Vaterbild gezimmert zu haben. Agamemnon sei in Wirklichkeit ein kriegs- und machtversessener Macho gewesen. Damit wird die Problemlage aufgefächert. Die Figuren bekommen Relief, Persönlichkeit, Leben. Gleichzeitig aber bilden sich immer neue Risse im antiken Mythos. Ist Elektras Obsession, mit dem Verbrechen aufzuräumen und sauberzumachen, indem sie zu weiteren Morden aufruft, nicht unmenschlich? Klytämnestra, Ägisth, Helena fallen dem Rachegebot zum Opfer, und Orest zerbricht daran. Was für eine Zukunft kann daraus entstehen?
Je weiter die Aufführung fortschreitet, desto fragwürdiger wird die Geschichte, die sie zeigt. Der Regisseurin kommt zugute, dass sie ihr Studium von Theaterwissenschaft und Philosophie mit einer Arbeit abschloss, die "Narration in zeitgenössischen Formen von Theater und Spiel" untersuchte.
Am Ende des Spiels stehen jene Kritzeleien an den Glasscheiben, die im Lauf des Abends entstanden sind. Jetzt nicht mehr als Aufführungsspuren, sondern als Menetekel: Man müsste alle Mythen neu erzählen, die das heutige Leben bestimmen (Kapitalismus, freie Marktwirtschaft, Patriarchat). Mit diesen Epilog geht die Aufführung zuende.
In ihrer Narration setzt Sophia Aurich Video für jene Szenen ein, die in der Antike hinter der Orchestra stattfanden. Während aber in der "Orestie" an der Comédie-Française, an den Münchner Kammerspielen und am Augsburger Staatstheater kübelweise Blut fliesst, bekommt Elektra in Bern erst ganz am Schluss eine Andeutung von roter Farbe an die Fingerspitzen. Und Ludwig Mies van der Rohe hatte recht: "Less is more".
Getragen wird die Aufführung von Chantal Le Moign als Klytaimnestra und Helena, Stefano Wenk als Aigisthos und Menelaos und Marie Popall als Elektra. Ausserordentliches leistet Gabriel Schneider als Orest. Selten noch ist ein Tragödienheld so rührend, so zart und so leise zusammengebrochen. Gut, ist Vidmar 2 klein. Damit bekommt man das feine Spiel der Darsteller uneingeschränkt mit (Dutts und Säule abgerechnet).
Die Schauspieler sind hinter Glas.