Hervorragende Sänger. © Frances Marshall.

 

 

Sweeney Todd, the Demon Barber of Fleet Street. Stephan Sondheim.

A Musical Thriller.          

Olivier Tambosi. Theater Orchester Biel Solothurn.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 14. Dezember 2019.

 

 

Der Premierenapplaus war warm und anhaltend. Der Kollege vom "Bund" zeigte sich angetan. Man könne am Montag eine sehr positive Besprechung erwarten. Und zwar ungeheuchelt. Dann also - dann wird eine Erklärung zu lesen sein, aus welchem Grund die Leute im Bieler Stadttheater bei "Sweeney Todd" dermassen applaudierten.

 

Zur Zeit liegt erst die Anklageschrift vor. Sie hat die Straftatbestände nach der Deliktschwere angeordnet. Und da steht zuoberst: unmögliches Bühnenbild. Der Täter ist identisch mit Regisseur Olivier Tambosi. Das beantragte Strafmass wird sich in dem Fall verdoppeln. Zumal es sich um einen uneinsichtigen Wiederholungstäter handelt.

 

Bereits bei "Maria de Buenos Aires" hat Olivier Tambosi das Orchester auf die Bühne gestellt. Dazu vermerkte die Anklage am 12. Dezember 2015: "... für die Aktion stehen nur die Rampe und der überdeckte Orchestergraben zur Verfügung, also die Vorbühne." Bei "Sweeney Todd" ist das nicht anders. Doch solch beengte Verhältnisse wissentlich herbeizuführen ist (wie schon 2015 angedeutet) "in unseren winzigen Häusern" ein Verbrechen.

 

Verschärfend kommt diesmal dazu, dass einzelne Orchester­musiker während der ganzen Aufführungsdauer von 2 h 50 bei Unbeschäftigung ihren Platz verlassen (beziehungsweise vor einem Einsatz wieder aufsuchen) und damit öffentlich kund tun, dass es für sie Interessanteres gibt, als der Bühnenhandlung und dem Spiel der Kollegen zu folgen. Auch wenn ihnen das subjektiv gerechtfertigt erscheinen mag, erlaubt die Situation dieses Verhalten nicht. Es gibt keinen Präzedenzfall in der Sinfonik, dass Musiker bei laufendem Konzert vom Podium auf oder abtraten. Da sich aber das Ensemble bei "Sweeney Todd" auf der Bühne befindet, unterliegt der Orchesterdienst den selben Vorschriften wie beim Konzert.

 

Zum Anklagepunkt "unmögliches Bühnenbild" kommt verschärfend dazu, dass der Platz zwischen Orchester und Rampe durch zwei drehbare Gestelle ausgefüllt wird. Die Spielfläche ist also noch kleiner als bei "Maria de Buenos Aires".

 

Die Podien dienen dazu, eine Art oberes Stockwerk herzustellen, obwohl dafür kein zwingender künstlerischer Grund vorliegt. Die Anklage plädiert deshalb auf Naivität und Leichtsinn. Der Nachteil der vertikalen Bühnenaufteilung erstreckt sich auch auf den Zuschauergenuss in den ersten (üblicherweise teuersten und prominentesten) Reihen, weil das Publikum nun in anstrengender Weise den Kopf in den Nacken werfen muss, um verzerrt und partiell wahrzunehmen, was oben auf der Podestfläche geschieht.

 

Dazu kommt, dass das Drehen der Podeste technisch umständlich ist, inhaltlich überflüssig und künstlerisch aussageleer. Das Personal (Chor und Technik) nimmt allerdings die Hantierungen unter Beachtung der gebotenen Sicherheit vor; es ist also gut instruiert. Gleichwohl erscheint das Hereintragen und Befestigen der beiden Metalltreppen links und rechts jedes Mal als riskante Massnahme. Ein weiterer Gesichtspunkt ist, dass die Treppen jede Bewegung auf der Bühne zusätzlich erschweren. Besonders deutlich wird das beim Schlussapplaus, wo sich die Künstler, um den Beifall entgegennehmen zu können, unästhetisch an den Treppengeländern vorbeiquetschen müssen.

 

Die Folge dieser Einrichtung ist, dass sich die Regie darauf beschränken muss, die Leute zu stellen, eine Haltung einnehmen und singen zu lassen. Daraus aber wird der Inszenierungs­gedanke (sofern vorhanden) nicht ersichtlich. Es handelt sich also bei dieser Aufführung von "Sweeney Todd" um rudimentäre Theaterroutine, mehr nicht.

 

Zweiter Anklagepunkt: Die Schwäche des Librettos. Die Handlungsführung ist von banalstem Zuschnitt. Wie bei den meisten Musicals wird die Aktion dadurch verlangsamt, dass die Figuren im Gesang vortragen müssen, wer sie sind, was sie wollen und in welcher Gefühlslage sie sich befinden. Damit verläuft das Ganze über lange Strecken plakativ und spannungslos. Zu erklären ist der Mangel damit, dass es sich bei "Sweeney Todd" um ein typisches Erzeugnis der New Yorker Unterhaltungsindustrie handelt. Die aber funktioniert – wie alle massentauglichen Hervorbringungen – nach der KISS-Regel: Keep It Simple and Stupid. Nur unter Beachtung dieser Regel können die Kapitalgeber mit einem return on investment rechnen. Was aber in Amerika gut ist fürs Kapital, ist, von Bümpliz aus gesehen, nicht gut für die Kunst.

 

Es liegt in der Natur der Dinge, dass "Sweeney Todd" die zur Zeit seiner Entstehung herrschende Mode bedient. Als das Musical 1979 zur Uraufführung kam, war gerade Horror angesagt: Der "Tanz der Vampire", "The Little Shop of Horrors" und "The Rocky Horror Show" füllten die Säle. Demzufolge schneidet im inkriminierten Machwerk ein Friseur der halben Stadt London mit dem Rasiermesser die Kehle durch, und die Toten werden von der Mittäterin zu Fleischkuchen verarbeitet, die reissenden Absatz finden. Seinerzeit brachte "Sweeney Todd" ein wohliges Gruseln in die übersättigte Welt der Hochkonjunktur. Heute aber findet der Horror in der Wirklichkeit statt. Darum ist das Musical auf der Bühne passé.

 

Dasselbe gilt auch für die musikalische Sprache von Stephen Sondheim. Man hört Anklänge an Bernstein, Webber und Leigh, doch hört man keine Ohrwürmer und keinen Anklang an Genialität. Talentierte Trivialität. Mehr nicht.

 

Strafmildernd wirkt das engagierte Spiel des Ensembles. Die Besetzung ist meisterhaft und entspricht weitgehend dem in Biel-Solothurn üblichen Niveau. Vortrefflich Christiane Bösiger als Mrs. Lovett. Wenn das Musical ihretwegen angesetzt wurde, muss die Anklage verstummen. Das Englisch der Sängerin ist so gut, dass man die Übertitelung nicht zu verfolgen braucht. Dazu zeichnet sich Christiane Bösigers Spiel durch Glaubwürdigkeit und Facettenreichtum aus. Wenn sie auf der Bühne steht, bekommt die Aufführung Drive.

 

Ebenso glaubhaft ist Christian Manuel Oliveira in der Titelrolle. Er muss eine gespaltene, problematische Figur verkörpern und erfüllt diese Aufgabe im Rahmen des Möglichen tadellos. Für ihn, Christiane Bösiger und sämtliche mitbeteiligten Chargen beantragt die Anklage deshalb Freispruch - namentlich für die Studentin der Hochschule der Künste Bern Roxane Choux, die ein feines Porträt der Johanna liefert, für Susannah Haberfeld als Beggar Woman (dämonisch und ergreifend) und Michael Heller als Tobias Ragg (als Junge sympathisch und als Wahnsinniger rührend).

 

Im Hauptverfahren gegen Werk, Bühnenbild und Regie wird der Chor der Verteidiger am Montag in der gedruckten Presse das Wort ergreifen. Das Urteil fällen anschliessend die Geschworenen an den einzelnen Sessionen der Aufführungen. Gegen sie wird niemand appellieren können. Auch nicht die Anklage.

Drangvolle Enge.  

Riskante Metalltreppen. 

 
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