Mort Prématurée d'un chanteur populaire dans la force de l'âge. Wajdi Mouawad/Arthur H.
Schauspiel.
Wajdi Mouawad. Théâtre national de la Colline, Paris.
Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 24. November 2019.
Es wäre anders herausgekommen, wenn es das Théâtre national de la Colline nicht unterlassen hätte, darauf hinzuweisen, dass es sich bei der "Mort prématurée d’un chanteur populaire dans la force de l’âge" um ein Familienstück handle, geeignet ab acht Jahren – oder vielleicht eher ab zwölf, denn es fällt darin alle paar Minuten das Wort "niquer", ein Wort, das "Leo" vorgibt, nicht zu kennen, "Siri" aber im Diktat anstandslos niederschreibt: "Niquer le système, c’est punk!"
Die Aufführung hätte sich bei den jungen Parisern eingegraben wie das Weihnachtsmärchen des Berner Stadttheaters, und die Heranwachsenden der mittleren Klassen hätten gestaunt über die Leistungsfähigkeit der Regenmaschine, welche unzählige Tropfen auf den Bühnenboden niederrauschen lassen kann, so dass es im Zuschauerraum kühl und feucht wird.
Dann treten Bühnentechniker – Teil des Spiels – in oranger Arbeitskleidung auf und bringen mit breiten Gummischabern das Wasser in wenigen Sekunden zum Verschwinden. Es hat sich eben, behauptet das Stück, ein Regentief über dem Ort der Handlung festgesetzt. In der burgundischen Kleinstadt herrscht höchste Alarmstufe (alerte rouge). Damit kann es bis weit über die Pause hinaus in allen Aussenszenen weiterregnen. Zum Schluss tritt eine Kaltfront ins Spiel. Nun rieseln weisse Flocken aus dem schwarzen Bühnenhimmel. Schön.
Während der gut dreieinhalbstündigen Aufführung können die technisch Interessierten die ausgetüftelte Logistik bewundern, mit der, um die und jene Szene herzustellen, Zwischenvorhänge auf und niedergleiten, Lichtwechsel die und jene Stimmung hervorrufen und die Bühnenarbeiter mal blaue, mal weisse, mal gekachelte Böden mit koordinierten, gut eingeübten Bewegungen ausgelegen.
Für die Familien kommen die beiden Sänger zum Einsatz, die ausserhalb des Theaters ihre Anhänger haben: Arthur H., ein eher intellektueller Chansonnier Mitte fünfzig, und Sara Llorca, Sängerin und Schauspielerin Mitte dreissig. Sie bringen ihr Publikum in die Colline und füllen sie bis zum letzten Platz. Die Geschichte ist nämlich so angelegt, dass Arthur H immer wieder ans Mikrofon treten und singen kann. Und da es sich im Stück um einen Gescheiterten handelt, stimmt die Qualität von Stimme und Liedern in jedem Fall.
Die Handlung setzt in der grossen, zynischen Welt der Musikindustrie ein. Das Publikum sieht von hinten auf eine Bühne, wo eine Band ihre letzte Nummer gibt. Während dem Applaus kommt der Star in die Garderobe. Im Saal beginnt der Abbau. Ein Journalist tritt auf. "Nur eine Viertelstunde!", sagt die Pressebeauftragte. Nach dem Interview braucht der Fotograf ein Coverbild fürs Magazin. Der Star muss während des Shootings scheissen. Sein Drang ist psychosomatisch. Er weiss es selbst: Das Business scheisst ihn an. So inszeniert er nun, um aussteigen zu können, seinen Tod. Das gibt den Titel des Stücks ab: "Vorzeitiger Tod eines beliebten Sängers im besten Alter". Damit gehen zwei Stunden um.
Nun beginnt die Pause. Auf den Presseplätzen schauen sich die Kritiker fassungslos an: "Es ist furchtbar!" "Ein Tiefpunkt." "Klischee auf Klischee." "Kein einziger neuer Gedanke." "Wie kann man so etwas nur zur Aufführung bringen?" "Sie sind hier eben alle viel zu nett zueinander [trop complaisant]." "Also den Rest erspare ich mir." "Bleibst du?" "Nein, ich komme auch." "Es ist peinlich. Ich darf ihm nicht begegnen." Ihm: Wajdi Mouawad, Direktor der Colline, Autor und Regisseur des Stücks. "Schreibst du darüber?" "Nein. Und du?" "Ich auch nicht."
Nach der Pause ist die "Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt" allein. Sie bereut es beinah. Die Pariser Kollegen hatten recht: Die Aufführung wird nicht besser. Nur fader. Jetzt geht es nochmals anderthalb Stunden, während denen der abgehalfterte Star im Regen steht.
Das Publikum aber harrt aus bis zum Ende. "Ich will meinen Schatten einholen", sagt der "chanteur populaire" am Schluss. Dann rauscht der Applaus auf. Warm und dankbar. Und warum? Weil das Stück hinter die Kulissen des Musikbetriebs führte. Da konnte der Durchschnittsmensch sehen, wie es an Orten zugeht, von denen er nur träumen kann. Ausserdem brachte die Aufführung zwei Chansongrössen auf die Bühne. Sie spielten vor, dass es die da oben auch schwer hätten. Darum könnten die da unten ganz zufrieden sein. Die Botschaft wäre geeignet fürs Familientheater – wenn das Wort "niquer" nicht wäre. Es ist das einzige, was die Produktion ins Erwachsenentheater verweist, wo sie in Wirklichkeit auch nichts verloren hat.