La Fille du régiment. Gaetano Donizetti.
Opéra Comique.
Franco Trinca, Andrea Bernard, Alberto Beltrame, Marc Bösemann, Valentin Vassilev. Theater Orchester Biel Solothurn.
Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 14. September 2019.
In diesem Jahr 2019 feiert die gebildete Welt fünfzig Jahre Regietheater. 1969 wurde es erfunden. Peter Stein in Bremen (Tasso) und Hans Hollmann in Basel (Titus, Titus) waren die Väter. Mit ihrem neuen Stil haben sie die inszenatorischen Möglichkeiten vervielfacht. Bei der herkömmlichen Weise (sie fungiert unter dem irreführenden Namen "Werktreue") wird die Vorlage so auf die Bühne gebracht, wie es der Text vorschreibt (Möglichkeit 0). Daneben hat das Regietheater vier weitere Zugänge geschaffen.
(1) Das Werk wird zeitlich und örtlich verschoben; häufig aktualisiert: Hamlet im Frack, Fidelio im KZ, Rusalka im Irrenhaus. (2) Die Handlung ereignet sich im Kopf einer Figur, meistens der Hauptperson: Der fliegende Holländer als Phantasiegebilde der gelähmten Senta; La Cenerentola als Wunschtraum der kleinen Angelina; La Bohème als Retrospektive des greisen Marcello. (3) Die Bühne begleitet das Geschehen - wie Wagners Partituren - mit einem Assoziations- und Kommentarstrom: "Der Freischütz" von Ruth Berghaus in Zürich; "Pelléas" von Achim Freyer in Linz; "Mondlicht" von Johannes Lepper in Bern. (4) Die Inszenierung kritisiert das Werk, etwa wegen seiner faschistischen oder inhumanen Tendenz: "Jud Süss" von Hansjörg Utzerath in Nürnberg; "Die lustige Witwe" von Olivier Tambosi in Biel-Solothurn; "Idomeneo" von Peter Sellars in Salzburg.
Bei "La Fille du régiment" von Gaetano Donizetti nun hat sich der hochbegabte Nachwuchsregisseur Andrea Bernard mit den beiden ersten Möglichkeiten begnügt. (1) Die Handlung spielt nicht mehr zu Beginn des 19. Jahrhunderts in den Tiroler Bergen, sondern sie ereignet sich zwischen Biel und Solothurn in der Zeit des kalten Kriegs. Das Video von Marc Bösemann zeigt Bomber und Panzer. Auf der Bühne von Alberto Beltrame zischt vor der Pause eine Rakete hoch. Die Marquise de Birkenfeld (Judith Lüpold) lebt in einem Bunker, dessen Hässlichkeit durch Vorhänge und Paneele verdeckt wird. Während also "draussen" Bedrohung herrscht, geht es "drin" um Schnickschnack und Etepetete: Brautschacher, Liedrezitation, Champagner, Kaviar. "Ah, Madame la duchesse!" "Enchanté, ma chère marquise!"
Durch den Kontrast von Krieg und Frieden streicht Regisseur Andrea Bernard die Fragwürdigkeit der Handlung heraus. Über sie schrieb der grundsätzlich wohlwollende Kurt Pahlen: "Die beiden Librettisten [Jules-Henri Vernoy de Saint-Georges und Jean-François Bayard] besassen eine geradezu unheimliche Routine in der Abfassung von 'zweckdienlichen' Textbüchern. Sie treffen das Milieu nett, erfinden einen Konflikt, der sich an der Grenze zwischen Drama und Lustspiel geschickt dahinführen lässt, bis er, zumeist auf nicht sehr originelle Weise, gelöst wird." Man versteht, dass "La Fille du régiment" von den Bühnen verschwunden ist.
Bei einem solch missratenen Werk hilft es nichts, dass es Andrea Bernard (2) als Erinnerung eines greisen Liebespaars inszeniert. Das zittrige, magere Muttchen war einst die fesche Regimentstochter, und er, der gebeugte, fürsorgliche Graukopf war der tolle Hecht, der sie gewann. Während Franco Trinca mit dem fabelhaft aufspielenden Sinfonie Orchester Biel Solothurn die Ouvertüre dirigiert, löffeln die alten Leutchen ihre Suppe und kramen Erinnerungsstücke aus der Vergangenheit hervor. Die stumme Szene verläuft klug abgestimmt zur Musik, weist aber jene Längen auf, die immer entstehen, wenn Statisten die Handlung tragen müssen. Im Lauf des Geschehens geraten die beiden Figuranten an den Rand und schliesslich in die Vergessenheit. Der sentimentale Weisst-du-noch-Faktor trug zum Verständnis der Oper nichts bei. Er war blosses Regietheater-Zitat.
Bleibt die Musik. Auch an ihr hat der grundsätzlich wohlwollende Kurt Pahlen nicht viel zu rühmen: "Donizetti ist hier sehr ungleichmässig. Man merkt, wie manche Szene ihn packt. Da wird er plötzlich zum grossen Musiker, da gewinnt er aus einem einfachen Trommelrhythmus genialen Schwung, da erwacht seine lyrische Ader, und er singt eine prachtvolle Melodie, wie sie nur Begnadeten einfällt. Dazwischen steht Mittelmässiges, einiges Billiges, zu Billiges." Und der Musikgeschichtler sagt zur Erklärung: "Es scheint, als habe Donizetti auf einen Auftrag der Pariser Opéra Comique hin 'La Fille du régiment' in wenigen Tagen komponiert; wer seine Arbeitsweise kennt, wundert sich darüber nicht".
So ungleichmässig wie die Komposition ist die musikalische Ausführung in Biel-Solothurn. Die uninspirierten Stellen schlägt Franco Trinca uninspiriert durch. Dröhnende Lautstärke soll die Leere verdecken, betäubt aber nur das Trommelfell. Das Finale des ersten Akts, wo Chor, Solisten und Orchester die Lautstärke zum fünffachen Fortissimo steigern, ist eindeutig im roten Bereich. À corriger!
Die Regimentstochter indes ist mit Aoife Gibney famos besetzt. "Die Frau wird es weit bringen", sagt der grosse, weitgereiste Kritiker, der mehr von Stimmen versteht als die "Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt". Am anderen Ende des Spektrums steht der Tenor Manuel Núñez Camelino. Für seine Leistung hat der frühere Intendant und Operndirektor in der Pause nur ein Wort: "Lamentabel." Die paar anderen Rollen fallen weder positiv noch negativ auf. Brav halt. Der Chor aber, der ist zu laut (Leitung Valentin Vassilev). Mit vollem Einsatz von Kehlen und Lungen unterstreicht er vor allem die Tatsache, dass im Heer gebrüllt wird.
So entspricht manches nicht der Qualität, an die uns Theater Orchester Biel Solothurn seit Jahren gewöhnt hat. Um den Abend zu retten, hätte Andrea Bernard die Chutzpe aufbringen müssen, das missglückte Werk beiseitezuschieben und stattdessen seinen eigenen Stiefel zu machen (Inszenierungswege 3 und 4). Das Resultat wäre ein Skandal gewesen – also etwas Aufsehenerregendes. Jetzt gab es am Jurasüdfuss bloss ein bemühtes, wohlgemeintes Nicht-Ereignis.
Ein bemühtes ...
... wohlgemeintes ...
... Nicht-Ereignis.