Mozart: Die spätesten Sinfonien.
Konzertabend.
Jos van Immerseel. Anima Eterna Brügge im Auditorium von Dijon.
Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 29. Mai 2019.
Die Eingangstakte der 39. Sinfonie werden geprägt von schrillen, dissonanten Akkorden. Sie sind gleichzeitig kühn und schmerzhaft. "Seht, was ich kann!", sagt der Komponist. Aber auch: "Seht, wie ich leide!" Er ist krank. Finanziell am Ende. Seine Musik wird nicht mehr gespielt. Er wird die drei letzten Sinfonien nicht mehr hören.
Im Verlauf der Komposition kommt es immer wieder zu heftigen, leidenschaftlicher Ausbrüchen. Ihnen gegenüber steht, in den Übergängen, ein ebenso neuartiges, für die Zeit revolutionäres Klanggeschehen: samtene, weiche Schönheit von nie gehörter Melancholie. Trauer hat die Musik schon immer auszudrücken verstanden. Aber Melancholie? "Das kann nur ich!", sagt Mozart mit naiver Schöpferfreude. "Und siehe, es war gut so."
Wenige Monate vor seinem Tod wurde der hochbetagte Karl Barth noch von der Sendung "Musik für einen Gast" besucht. Das Atmen bereitete ihm schon Schwierigkeiten. Die Stimme war zittrig. Aber er wusste immer noch, was er wollte, und er drückte seine Gedanken scharf aus. "Sie haben, Herr Professor, nur Mozart gewünscht", stellte die Moderatorin Roswitha Schmalenbach am Anfang des Gesprächs fest. "Das ist gegen das Prinzip der Sendung. Aber für Sie mache ich eine Ausnahme. Doch sagen Sie mir: Warum wünschen Sie keinen anderen Komponisten?" Der Theologe überlegte nicht lange: "Die Engel hören nur Mozart!" In Mozart, führte der Vater der dialektischen Theologie aus, sei alles drin: Freude und Schmerz, Aufbruch und Niedergeschlagenheit. Doch vor allem Mut. Mut, immer wieder neu anzufangen, Mut, seine Aufgabe zu meistern. Mut zum Leben.
Karl Barths Aufzählung war nicht vollständig. Es fehlt in ihr eine essenzielle Kategorie: die Ehrlichkeit. Was immer Mozart schreibt, es ist nie falsch; nie falsch im ästhetischen, aber auch nie falsch im ethischen Sinn. Diese Lauterkeit, die den Komponisten vor allen anderen auszeichnet, bringt nun Anima Eterna am Mozart-Abend in Dijon zu Gehör.
Die Eindringlichkeit erklärt sich schon mit der Entscheidung, die Jos van Immerseel trifft: Kleinstmögliche Besetzung. Sie entspricht der Mozart-Zeit. Alle Musiker sind da noch Solisten. Das zwingt sie, ihr Bestes zu geben, nötigt sie aber auch, auf einander zu hören. Auf diese Weise realisiert sich die Ehrlichkeit der Partitur in der Spielweise des Orchesters.
"Die besten Musiker wohnen nicht an meiner Strasse", sagt Jos van Immerseel. "Ich muss sie von dorther holen, wo sie sind." So kommen nun die Instrumentalisten aus aller Welt zusammen. Und miteinander realisieren sie das Fagott-Konzert KV 191. Dafür tritt Jane Gower aus dem Ensemble heraus und neben den Dirigenten nach vorn.
Ohne dass man recht versteht, wie sie's macht (sie scheint das Instrument nur mit beiden Armen vor sich zu halten) entlockt sie dem introvertierten Rohr eine reine, gurgelnde Verspieltheit. In ihr verrät sich unschuldige Freude an der Virtuosität. Man möchte vor Vergnügen mitschnurren. "delectare volunt", sagte Horaz dazu und traf die Sache auf den Kern.
Doch dann kommt es, mit der 40. Sinfonie, nochmals zu einer Steigerung: Das Ensemble wird reduziert. Von dreissig auf fünfundzwanzig. Die Trompeten sind weg. Das Schlagzeug ist weg. Die Klarinetten sind weg. Zwei Flöten sind weg. Und was ist das Resultat? Die Komposition wird noch reicher. Die Farben, Akkorde und Melodien erreichen einen nie gehörten Grad von Innigkeit. "Das kann nur ich!", sagt Mozart.
Für die Musiker von Anima Eterna bedeuten Mozarts letzte Sinfonien indes nicht Routine, sondern Herausforderung. Die Hornisten suchen und suchen. Dann kommen sie zurück: "Wir haben die richtigen Hörner gefunden." Jos van Immerseel erklärt: "Es kam mir immer vor, als seien die Hörner im Klang zu dick und zu plump; doch ich dachte, das müsse so sein. Nun haben wir – als einzige - originale Hörner. Und siehe da: der Ton ist viel schlanker, wendiger, farbenreicher."
Die 40. Sinfonie, Mozarts zweitletzte, mit ihren langen, melancholischen Bögen, ist damit nicht weniger kontrastreich, dicht und packend wie die hypertrophen Klanggebilde, die die Komponisten der Spätromantik mit 120-köpfigen Orchesterapparaten herzustellen suchten. Doch um das zu erleben, muss man über die Grenze fahren; nach Dijon, wo Anima Eterna "orchestra in residence" ist. Dann erlebt man Wolfgang Amadeus Mozart in einer Authentizität, die den Musikern das Recht gibt zu sagen: "Das können nur wir!"
Probe im Alltagskleid.