Tristan und Isolde. Richard Wagner.
Oper.
Kevin John Edusei, Ludger Engels, Volker Thiele, Heide Kastler. Konzert Theater Bern.
Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 26. Mai 2019.
Die Oper ist zu lang. Die Aufführung dauert gute fünf Stunden. Allerdings hat der Abend auch zwei Pausen; die eine von vierzig, die andere von zwanzig Minuten. Sie sind beide nicht zu kurz. Für den letzten Akt – er beginnt wochentags um 22:10 Uhr – ist die Konzentrationsfähigkeit ramponiert. Es gab schon so viel zu sehen, zu hören, zu denken, zu fühlen und, ja, auch zu bewundern, dass jetzt, im dritten Aufzug, manches Wichtige, Schöne und Bedeutende der Aufmerksamkeit entwischt.
Verschiedene jüngere Herrschaften nicken ein. Die älteren Premierenabonnenten sitzen das Ereignis wie gewöhnlich im Energiesparmodus ab. Das Berner Symphonieorchester aber, geleitet vom frischen, alerten Kevin John Edusei, bleibt bis zum Schluss in Form. Schlank und wendig realisiert es die unzähligen Wechsel in Tempo und Dynamik, mit denen Richard Wagner in seiner Meisterpartitur die Kombination von Motiven, die Konstellation von Gefühlen und den Umschlag von Situationen herbeiführt.
Für die Zeitgenossen aber bedeutete das Werk nicht nur eine Zumutung, sondern eine Überforderung. Die Wiener Hofoper erklärte das Werk nach 77 Proben für unaufführbar. Die Uraufführung geschah dann in München. Bern aber bringt nun "Tristan" spielend zuwege, und zwar fabelhaft entschlackt fürs 21. Jahrhundert. Damit wird die aktuelle Aufführung in jeder Hinsicht der Gattungsbezeichnung gerecht, die der Komponist gewählt hat. Wagner nämlich bezeichnet die Oper nicht als "Oper", sondern als "Handlung".
Mit einem aussergewöhnlich feindosierten Zusammenwirken von Scheinwerfern, Kostümen, Perücken, Requisiten, Bildwechseln, Stellungen, Gebärden und Handlungen stellt das Ensemble der Beteiligten die "Handlung" dergestalt auf die Bühne, dass der Charakter des Gesamtkunstwerks auf neuartige Weise zutage tritt. Was das bedeutet, hat Egon Friedell beschrieben: "Die Betrachtung der ersten Art wirft ihr Licht auf die Dinge und kann daher nur deren Oberfläche treffen: sie macht ihre Gegenstände bloss sichtbar. Die Betrachtung der zweiten Art wirft ihr Licht in die Dinge: sie macht die Gegenstände selbstleuchtend."
Was bei "Tristan und Isolde" vors Auge kommt, ist im wahrsten Sinn unheimlich. Es geht um die Frage der Handlungsfreiheit: "Was ist das, was in uns lügt, hurt, stiehlt und mordet? Puppen sind wir, von unbekannten Gewalten gezogen; nichts, nichts wir selbst!" Die Frage nach dem Urheber, die Georg Büchner in "Dantons Tod" stellt, beantwortet die Inszenierung für die "Handlung" mit einer hinzuerfundenen Gestalt. Das Programmheft nennt sie: "Der Künstler". Er führt die Regie. Er bringt das Schau-Spiel auf die Bühne. Das bedeutet: Das tragische Schicksal von Tristan, Isolde, Marke, Kurwenal, Melot und Brangäne wird zum Ästhetikum. Wir sind, wie es das Programmheft-Interview mit Dirigent und Regisseur ausdrückt, "Im Atelier der Liebe".
Wenn aber die Bühne ein Spiegel ist für die Wirklichkeit, so bedeutet das, dass das Leid der Welt letzten Endes möglicherweise auch bloss den Sinn hat, dem Ergötzen zu dienen: "Ist denn der Alltag mit seinen Goldaugen eine Schüssel mit Goldkarpfen, die am Tisch der seligen Götter steht, und die seligen Götter lachen ewig, und die Fische sterben ewig, und die Götter erfreuen sich ewig am Farbenspiel des Todeskampfes?"
Die Frage, die 1835 in "Dantons Tod" gestellt wurde, beantworten heute die Bildschirme täglich und stündlich mit Ja: Das Leid dient dem Ergötzen. Die Zuschauer sind Götter. Und die Götter sind Zuschauer. Regisseur Ludger Engels und sein Team inszenieren diese Gegebenheit mit. Auf diese Weise stellen sie selber Aufführung, Werk und Publikum in Frage.
Die Szenenanweisung zum ersten Aufzug ("Zeltartiges Gemach auf dem Vorderdeck eines Seeschiffes") bringt Bühnenbildner Volker Thiele in die Gegenwart, indem er die Handlung in einer Kabine stattfinden lässt. Im engen Raum können sich die vier Personen nicht ignorieren, tun aber gleichwohl, als sähen sie sich nicht. Damit ist die Situation, die Wagner vorschwebte, wiedergegeben.
In der Enge stauen sich die Energien. Und durch den Stau steigt der Druck. Während sich das Schiff in schneller Fahrt dem Ufer nähert, durchmessen die vier Personen im Innern die Vorgeschichte, die sie zusammenführte. Selten noch – ja, vielleicht nie - war das Spiel von Opernsängern so genau, so realistisch und so beklemmend. Wagners Komposition untermalt hier einen Psychothriller, und das Orchester spielt mit. Am packendsten an der Meisterstelle, wo sich Tristan und Isolde stumm gegenübersitzen, während der Liebestrank in ihre Adern rinnt, bis er die "Einstellungen" im wahrsten Wortsinn umgewandelt hat.
"Trompeten vom Lande her." Hier inszeniert die Aufführung "die soeben bevorstehende Ankunft der Erwarteten" und bringt, "als der Vorhang schnell fällt", mit dem Erscheinen Melots und König Markes einen Auftritt auf die Bühne, der ins Musterbuch der Regiekunst gehört.
Der zweite Aufzug beginnt im "Gemach Isoldes" und führt in der "Einleitung" "sehr lebhaft" (so ist auch das Tempo überschrieben) die Situation des unglücklichen Ehepaars Isolde und Marke vors Auge. Später erst, mit dem Auftritt Tristans, weitet sich die Kammer aus zum "Garten" in einer "hellen, anmutigen Sommernacht".
Die Inszenierung ist optisch nah am Werk, ersetzt aber die Mittelalter-Romantik der bemalten Stoffkulissen durch neue, dem 21. Jahrhundert gemässe Zeichen. Sie üben auf den modernen Zuschauer die gleiche Faszination aus wie bei der Uraufführung 1859 am königlichen Hof- und Nationaltheater München die efeuumrankten Burgmauern. In Form eines optisch berauschenden Paillettenkostüms von Heide Kastler sinkt jetzt die "Nacht der Liebe" auf das Liebespaar "hernieder". Unvergesslich.
Doch wie lässt sich der Moment der Vereinigung, des "Nie-wieder-Erwachens / wahnlos / holdbewusster Wunsch" fixieren? Durch den Tod natürlich: "Lass mich sterben! / Nie erwachen!" Aber auch durch die Kunst. Sie lässt den Moment zum Bild gerinnen. Sie macht ihn unsterblich. Die Inszenierung realisiert diese Aussage, indem sie Tristan und Isolde zum Malpinsel greifen lässt.
Die gelbe Farbe symbolisiert gleichzeitig das Verströmen des Bluts, also den belebten Augenblick, wie auch die Dauer der Kunst durch Erstarrung der Zeit. Das eine fliesst ins andere. Darüber hat schon, zwanzig Jahre vor Wagner, Georg Büchner in seinem "Lenz" nachgedacht: "Wie ich gestern neben am Tal hinaufging, sah ich auf einem Steine zwei Mädchen sitzen: die eine band ihr Haar auf, die andre half ihr; und das goldene Haar hing herab, und ein ernstes, bleiches Gesicht, und doch so jung, und die schwarze Tracht, und die andre so sorgsam bemüht. Die schönsten, die innigsten Bilder der altdeutschen Schule geben kaum eine Ahnung davon. Man möchte manchmal ein Medusenhaupt sein, um so eine Gruppe in Stein verwandeln zu können" ... Die Kunst als Medusa: Das Ungeheuer hält das Leben fest um den Preis des Lebens. Dieses Verhängis reflektiert in Bern die Aufführung - und problematisiert sich damit selbst. Darin besteht die Abgründigkeit (mise en abyme) der grossen Produktion.
Im dritten Aufzug ist die Lava erstarrt zum Basalt. Tristan scheidet hin. Isolde scheidet hin. Kurwenal scheidet hin. "Tot denn alles! / Alles tot!", singt König Marke. Die Bühne ist offen, geröllübersät. Das mineralische Reich aber bedeutet, wie Schopenhauer darlegte, den Tod an sich. Und Freud stellte fest: "Der konservativen Natur der Triebe widerspräche es, wenn das Ziel des Lebens ein noch nie zuvor erreichter Zustand wäre. Es muss vielmehr ein alter, ein Ausgangszustand sein, den das Leben einmal verlassen hat und zu dem es über alle Umwege der Entwicklung zurückstrebt. Wenn wir es als ausnahmslose Erfahrung annehmen dürfen, dass alles Lebende aus inneren Gründen stirbt, ins Anorganische zurückkehrt, so können wir nur sagen: Das Ziel alles Lebens ist der Tod." Darauf läuft nun "Tristan und Isolde" hinaus.
Richard Wagner verstand seine Oper als ultimatives Gesamtkunstwerk. Und so wird es auch auf der Bühne des Stadttheaters Bern realisiert: als Wurf, als Brocken, als grosses, schweres Ding, das uns bezaubert, umwirft, in die Knie zwingt. Und die Aufführung schenkt uns durch ihren künstlerischen Ernst das Werk neu wie am ersten Tag, als es den Schreibtisch des Meisters verliess: Aufwühlend, vielgestaltig, rätselhaft, abgründig - entsprechend dem Charakter einer ultimativen Sache.
Am 21. Oktober 1889 brachte die "Vossische Zeitung" Theodor Fontanes Schlussatz: "Auf das Spiel komme ich morgen früh zurück." Diese Vervollständigung ist mir heute verwehrt. Ich muss meine Besprechung abbrechen mit dem Hinweis, dass sich der Terminus "Gesamtkunstwerk" auch auf die sängerischen und darstellerischen Leistungen erstreckt. Doch das bedeutet für Bern nichts Neues mehr, seit das Haus unter Operndirektor Xavier Zuber in den Rang der Hauptstadttheater aufgestiegen ist. Gottseidank.
In der Schiffskabine ...
... steigt der Druck.