Wunschkinder. Lutz Hübner und Sarah Nemitz.
Schauspiel.
Cilli Drexel, Rebekka Zimlich. Theater Orchester Biel Solothurn.
Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 27. April 2019.
In seinen "Erzählungen der Chassidim" zitiert Martin Buber den Rabbi von Ger mit seinem weisen Ausspruch: "Was willst du? Rühr her den Kot, rühr hin den Kot, bleibt's doch immer Kot." Der grosse jüdische Philosoph drückt sich vornehm aus. Heute würden wir sagen: "Scheisse bleibt Scheisse." Die Wahrheit dieses Satzes illustriert nun das Stück "Wunschkinder" von Lutz Hübner und Sarah Nemitz, das in Biel-Solothurn zur Aufführung kommt. Von der spätpubertären Lebensverweigerung des 19jährigen Marc sind alle sechs Personen, die das Stück vorführt, überfordert: Zunächst der 19jährige Marc selbst, dann sein Vater, seine Mutter, seine Tante, seine Freundin und deren Mutter - und darüberhinaus auch das Autorenpaar Lutz Hübner und Sarah Nemitz. Sie alle können das Problem nur beenden, indem sie abhauen. Der Fötus der ungewollten Schwangerschaft wählt den Weg des Spontanaborts; Marc geht nach Köln zum Studieren und nimmt sich eine neue Freundin; die Eltern übersiedeln nach Dubai; die Tante wendet sich der Arbeit zu; die Mutter der ersten Freundin rutscht in die Depression; deren Tochter senkt den Kopf und beisst sich durch; und das Autorenpaar haut am Ende alle Handlungsfäden ab, indem es aus der szenischen Darstellung steigt und die Figuren einzeln erzählen lässt, wie es für sie weiterging. Die "Wunschkinder" sind also keine runde Sache, für niemanden und unter keinem Aspekt. Rühr her den Kot, rühr hin den Kot ...
Wie soll man auf solch deprimierende Lage reagieren? Der Gerer Rabbi nimmt die Frage auf und stellt sie im Licht der jüdischen Weisheit in ihre wahre Dimension: "Ja gesündigt, nicht gesündigt, was hat man im Himmel davon?" Und der grosse Lehrer führt aus: "Wer ein Übel, das er getan hat, immerzu beredet und besinnt, hört nicht auf, das Gemeine, das er tat, zu denken, und was man denkt, darin liegt man, mit der Seele liegt man ganz und gar darin, was man denkt – so liegt er doch in der Gemeinheit: der wird gewiss nicht umkehren können, denn sein Geist wird grob und sein Herz stockig werden, und es mag noch die Schwermut über ihn kommen." Die Lösung, die einer Erlösung gleichkommt, bringt die Einsicht: "In der Zeit, wo ich darüber grüble, kann ich doch Perlen reihen, dem Himmel zu Freude. Darum heisst es: 'Weiche vom Bösen und tue das Gute' – wende dich von dem Bösen ganz weg, sinne ihm nicht nach und tue das Gute. Unrechtes hast du getan? Tue Rechtes ihm entgegen."
Diese "Wendung" im mehrfachen Wortsinn ist indessen dem Stück und seinen Figuren verwehrt. Denn bei Lutz Hübners und Sarah Nemitz' "Wunschkindern" geht es nicht um Tragödie oder Komödie, Einsicht oder Läuterung, sondern um Neo-Boulevard: Leicht verständliche Schreibe mit Identifikationsangeboten fürs grosse Publikum, das im Friseursalon die Ratgeberspalten der Illustrierten aufschlägt. "Themen: Ehebruch, aber auch: Generationskonfrontation, Doppelmoral, Karriereprobleme", schreibt dazu Henning Rischbieter unter dem Stichwort "Boulevardtheater" in seinem Theaterlexikon. An der Premiere in Solothurn kommt das an. - Und warum auch nicht? Wir alle, die im Dunkeln sitzen, erkennen uns in den Konflikten und Dialogen wieder. Keine Figur überragt uns. Wir sind unter unsersgleichen. "Es ist nun einmal nicht anders: die meisten Menschen leben mehr nach der Mode als nach der Vernunft." (Georg Christoph Lichtenberg)
Cilli Drexels Bühnenkunst macht das Zuschauen angenehm. Die Regisseurin versteht es nämlich meisterhaft, Szenen zu überblenden, Situationen im Fluss zu halten und die Darsteller zu einer feinen, glaubwürdigen Spielweise anzuhalten. In diesen Punkten bringt Theater Orchester Biel Solothurn mehr als Boulevard. Bereits das Bühnenbild von Rebekka Zimlich ist zurückhaltend und gescheit: Ein einfaches System von grauen, verschiebbaren Kulissen, die auf elegante Weise Räume, Raumspannungen und Veränderungen erzeugen, ohne vom Spiel der Figuren abzulenken. Zur Möblierung gibt es für einen kurzen Moment einen grauen Stuhl. Im übrigen beruht das sichtbare Geschehen einzig auf der Stellung und Bewegung der Darsteller.
Das bedeutet Konzentration auf den Kern der Figur, und die spricht sich aus durch klar definierte körpersprachliche Zeichen. Günter Baumann, der als Vater die pragmatische Macherseite vertritt, lässt seine Hände immer wieder sogenannte Präzisionsgesten annehmen. Margit Maria Bauer als Mutter verrät ihre emotionale Überforderung durch zerfliessende Gesichtszüge von mitleiderweckender Hilflosigkeit. Tom Kramer, Darsteller des leichtfertigen Sohns, der in den Wolken lebt (sehr schön und sprechend das Plakat und der Programmheftumschlag von Stephan Bundi), versucht in der Ruhelosigkeit seiner Füsse und Beine immer wieder abzuheben, wenn nicht gar abzuhauen. Ihm gegenüber tritt Barbara Grimm mit breitem Stand als geerdete Figur auf (der Raisonneur in der Sittenkomödie), deren Mässigungsappelle jedoch die überhitzte Situation nicht abzukühlen vermögen. Tatjana Sebben deutet durch die Zerbrechlichkeit von Körper und Spiel an, wie dünn das Eis ist, auf dem sie sich bewegt; für sie ist Ansichhalten die einzige Option, um nicht unterzugehen. - Sobald die junge, begabte Schauspielerin ihre Sprechtechnikübungen wiederaufnimmt beziehungsweise intensiviert, wird sie von der Sprungbrettbühne Biel-Solothurn weiterkommen an andere Häuser.
Das Weiterkommen realisiert Atina Tabé auf stupende Weise in ihrem Stammhaus. Seit sie vor einem Jahr die Rolle der Babette Biedermann in den Griff bekommen hat, hat sie eine neue Stufe der Gestaltung erklommen. Ihr Spiel hat jetzt Grösse; das heisst: Es ist intensiv, packend, anrührend, interessant und stets bedeutend. Wenn Ensembletheater stetige Entwicklung der Talente bedeutet, legt Atina Tabés schauspielerischer Aufstieg ein mächtiges Argument für die Berechtigung dieser Organisationsform ein.
Atina Tabés Spiel (rechts) hat jetzt Grösse. (links: Tatjana Sebben.)
Die Kulissen erzeugen auf elegante Weise Räume und Veränderungen.