Ein Heldenleben. Richard Strauss. / Une Barque sur l’océan. Maurice Ravel. / Cellokonzert. Edward Elgar.
Konzertabend.
David Zinman. Orchestre de Paris in der Philharmonie de Paris.
Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 25. März 2019.
Angeleitet von Max Léglise, dem Direktor der önologischen Forschungsanstalt Burgund, lernten wir - das war noch im letzten Jahrhundert - "das Degustieren edler Weine". Mit Hilfe von destilliertem Wasser, das in unterschiedlichen Teilen mit Weinsäure, Gerbsäure und Glukose vermischt war, eichten wir wochenlang den Gaumen. Dann lernten wir, mit der Nase die 56 wichtigsten Weinaromen zu erkennen; zuerst einzeln, dann in Zusammenstellungen zu zweien und zwei dreien.
Nach zwei Semestern kamen wir endlich zum Wein. Das Testblatt wies ein halbes Dutzend Kriterien auf. Darauf folgte die Zeile: "Appréciation personelle". Für die persönliche Einschätzung konnte man 3 Punkte vergeben: 3 = sehr gut, 2 = gut, 1 = in Ordnung, 0 = mangelhaft. Da war nicht mehr viel Spielraum für die Subjektivität. Zumal die restlichen 17 Punkte nach "objektiven" Kriterien zu vergeben waren wie beispielsweise der "Dauer des Abgangs in Sekunden" (durée de la persistance gustative).
Die Frage: "Gefällt mir der Wein?" wurde damit gleich irrelevant wie später die Frage: "Gefällt mir die Thesis?" Die persönliche Einschätzung des Professors interessiert die Studenten nicht. Sie wollen nur wissen: "Ist die Arbeit gut?" Es geht ihnen ums Urteil, nicht um die Meinung. Für die Note verlangen sie Gründe. Wenn die Bewertung von ihrer Einschätzung abweicht, geben sie nicht gleich nach, sondern fragen: "Was hätte ich machen sollen?" Dann muss man ihnen das Richtige (oder das Bessere) zeigen können. Erst wenn das gegeben ist, nicken sie, nehmen die Note entgegen und bedanken sich.
So verhält es sich nun auch beim kritischen Handwerk. Niemand muss nach Paris reisen, weil mir gestern der Konzertabend mit dem Orchestre de Paris gefallen hat. Sondern ich muss dafür Gründe namhaft machen. Zum Beispiel die Akustik von Jean Nouvels Philharmonie. An sie kommt, wie sich mittlerweile durchgesetzt hat, die Elbphilharmonie nicht heran. Ein weiterer Grund liegt in der Qualität des Orchesters. Aus Motiven, die in Frankreich niemand begreift, wird sie derzeit zu tief eingeschätzt. Das Orchestre de Paris gilt international bloss als grosses, nicht aber als sehr grosses Orchester. Da gibt es also noch etwas zu entdecken.
Zu den Stärken des Abends gehören ebenfalls die weit über hundertzwanzig Musiker. Sie alle sind mit dem Saal vertraut. Dynamik und Durchhörbarkeit profitieren von dieser Erfahrung. Daneben kommt an meinem Konzertabend die Harding-Schule der lasergenauen Präzision dem Gastdirigenten David Zinman zugute. Er kann sich auf die Objektivität des Schlags beschränken. Den Rest machen die Musiker. Sie treten mit Elastizität für die solistischen Aufgaben hervor und gleiten unauffällig ins Register zurück. Meisterhaft zeigt sich das bei Konzertmeister Philippe Aïche. Im packenden Geigensolo des "Heldenlebens" entfaltet er den Part bis in die feinsten Verästelungen. Daneben hält er für den Rest des Abends die Streicher kompakt zusammen. Ihm gegenüber hat der Solist von Edward Elgars herbem Cellokonzert, Truls Mørk, immer den Lead, doch drängt er sich nie primadonnenhaft vor. Beim Eröffnungsstück des Abends schliesslich, "Une Barque sur l’océan" von Maurice Ravel, das man fast schon als impressionistische Orchesteretüde auffassen könnte, ist sogar beim Blindtest der aquiline Duktus der Partitur im Auf-und Abschwellen der Töne evident.
Wenn es indes um die "appréciation personelle" geht, möchte ich den drei gespielten Werken nicht mehr als zwei von drei Punkten geben. Es ist eine pure Frage der musikalischen Vorlieben. Das Hauptstück des Abends, das "Heldenleben", kann mich nie den Kalauer vergessen machen: "Wenn Richard, dann Wagner, wenn Strauss, dann Johann." Niemand kann über seinen Schatten springen. Im Gegensatz zur Wissenschaft ist die Subjektivität des Kritikers ein Faktor, der das Urteil mitbeeinflusst. (Voilà qui est dit.)