Chanson douce. Leïla Slimani.
Schauspiel.
Pauline Bayle. Comédie-Française.
Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 25. März 2019.
Kindermord zieht. Gleich nebenan, im Théâtre du Petit Saint Martin, wird "Girls and Boys" des Engländers Dennis Kelly gegeben (wie auch im Wiener Burgtheater), und gleichzeitig läuft auf der Studiobühne der Comédie-Française die "Chanson douce" der Franko-Marokkanerin Leïla Slimani.
In den "Girls" bringt ein Vater seine beiden vorschulpflichtigen Kinder um, einen Jungen und ein Mädchen, und in der "Chanson" begeht eine Kinderfrau die Tat. Hätte die Mutter nicht gearbeitet, wären die Morde nicht passiert – eine unbeabsichtigte Konsequenz der Frauenemanzipation. Es ist nicht anzunehmen, dass die Dramaturgien der beteiligten Theater darauf hinweisen wollten. Aber nun geschieht das Grauenhafte halt und füllt die Säle.
Doch wie kommt eine Kinderfrau (in Frankreich: "la nounou") dazu, die anvertrauten Kleinen nach vier Jahren des Zusammenlebens im Bad umzubringen? Steuerschulden sind's, die sie zur Verzweiflung und damit zur Tat treiben. Die arme Hausangestellte kann nicht einmal etwas dafür. Der verstorbene Mann hat sie angehäuft. Sie hat sie lediglich geerbt, ist also, wenn man so will, ein Opfer des gnadenlosen kapitalistischen Rechtsstaats.
Wenn anderseits die Kinder in einer Kita Platz gefunden hätten oder wenn es nicht zu Steuerschulden gekommen wäre oder wenn die Eltern ein anderes Kindermädchen angestellt hätten oder wenn die Mutter nicht gearbeitet hätte oder wenn eine Nachbarin rechtzeitig geklingelt hätte – dann brauchte jetzt nicht Friedrich Hebbel zu Wort zu kommen. Der grosse Dramatiker schreibt in seiner Vorrede zu "Maria Magdalena":
"Sobald man sich mit einem: Hätte er (30 Taler gehabt, dem die gerührte Sentimentalität wohl gar noch ein: Wäre er doch zu mir gekommen, ich wohne ja Nr. 32, hinzufügt) oder einem: Wäre sie (ein Fräulein gewesen usw.) helfen kann, wird der Eindruck, der erschüttern soll, trivial."
Das triviale "Fait divers", das Leïla Slimani zum Roman ausgesponnen hat, führte zu kommerziellem Erfolg: 900’000 verkaufte Exemplare, 40 Übersetzungen, eine Filmadaption - und jetzt noch eine Fassung fürs Theater. Kindermord zieht.
Für ihre Dramatisierung zerschnipselt Regisseurin Pauline Bayle die Handlung in einzelne Takes und setzt sie "geschickt" (wie es in solchen Fällen heisst) hintereinander. Aber was für Dialoge! Dünn, trocken, jämmerlich; ohne Sprachgefühl. Und erst die Figurenzeichnung! Anorektisch, schematisch, einseitig. Kein Vergleich mit Simenon, Glauser oder Dürrenmatt.
Das schüchterne Spiel der Darsteller zeigt: Der Boden, auf dem sie sich bewegen, ist kaum tragfähig. Es hat schon seinen Grund, dass das Seichte im Fernsehen kommt. Auf der Bühne hat es nichts verloren.
Aber was für Dialoge!
Dünn, trocken, jämmerlich.