Das Ganze kam ohne Blut zustande ... © Brigitte Enguérand, coll. Comédie-Française

 

 

 

Fanny und Alexander. Ingmar Bergmann.
Schauspiel.                  

Julie Deliquet, Eric Ruf. Comédie-Française, Paris.
Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 25. März 2019.

 

 

"Wenn ihr's nicht fühlt, ihr werdet's nicht erjagen". (Goethe)


Gutes Theater und Aufrichtigkeit haben gemeinsam, dass sie schwer zu definieren sind. Steht man ihnen aber gegenüber, erkennt man sie sofort. Die Beteiligten selber können nicht genau angeben, wie sie ihre eigentümliche Qualität hervorbringen. Es sei, sagen sie, eine Frage der Einstellung oder (nach heutiger Begrifflichkeit) des Ethos. Die Empfangenden ihrerseits spüren, dass sie etwas Unalltäglichem begegnen: und zwar, mit Plato zu reden, dem Seinsollenden. Damit beglückt jetzt die Comédie-Française im Fall von "Fanny und Alexander" die gesamte Pariser Kritik, von rechts bis links, von jung bis alt und von männlich bis weiblich. 

 

Die älteren haben zu Beginn der achtziger Jahre noch Ingmar Bergmanns Film im Kinosaal gesehen. Die jüngeren haben vor der Premiere die fünfeinhalbstündige Fernsehfassung herunter­geladen. Alle attestieren der szenischen Version, an der die Regisseurin Julie Deliquet beteiligt war, sie stehe auf eigenen Beinen und wecke keine Sehnsucht nach dem Film. Aber das sei, sagen sie, kein Wunder: Bei dieser Truppe. Das Ausrufezeichen, das sie mitformulieren, ist deutlich zu hören. Dabei, unterstreicht der prominenteste Kritiker, kam das Ganze ohne Video zustande, ohne Blut, ohne Schwimmbecken, ohne Ständer- und Kopfmikrofone! Die jungen reagieren mit verwundertem Nicken: Stimmt! Daran haben wir gar nicht gedacht!

 

Gutes Theater braucht also vor allem gute Schauspieler. Die Comédie-Française hat sie; sie verfügt über die beste und bestassortierte Truppe der Welt. Was auch immer gezeigt wird, kann schauspielerisch nicht danebengehen. Auf diese Weise gehorcht die Bühne dem Cézanne-Prinzip: Egal, ob der Meister Früchte, Menschen oder Berge malte, stets war das Resultat bemerkenswert.

Daneben braucht gutes Theater starke Situationen. Im Fall von "Fanny und Alexander" liefert sie Ingmar Bergmann mit fast schon halsbrecherischer Kühnheit. Die ersten fünfviertel Stunden sind nämlich eine einzige Exposition. Szene folgt auf Szene, ohne dass klar würde, worauf das Ganze hinausläuft. So ist die Langeweile auf die Dauer nicht zu unterdrücken. Die beiden jungen Sitznachbarn kehren nach der Pause nicht mehr an die Plätze zurück. Man versteht sie.

Doch in der Fortsetzung versteht man auch, dass die Exposition das Fundament liefern musste für einen überwältigenden zweiten Teil, der nicht nur einer dramaturgischen, sondern auch (das ist das Bemerkenswerte) einer emotionalen Vorbereitung bedurfte. Damit kam ein Umschlag zustande, dessen Qualität kaum mehr zu definieren ist; zu vielfältig ist das Ganze verwoben.

Gutes Theater verlangt, wie "Fanny und Alexander" darüberhinaus auch zeigt, Exaktheit. (Talent wird selbstverständlich vorausgesetzt.) Kein Ton darf falsch klingen, sonst wird der Bogen gebrochen, der Bann zerstört. Die Pausen müssen stimmen. Der Rhythmus. Die Blicke. Die Gänge. Die Haltungen. Das Licht. Alles sensibel in den Raum gestellt, mitsamt den Treppen (Bühne: Eric Ruf).

Und dann kommt noch etwas hinzu, was im deutschsprachigen Theater verlorengegangen ist: eine Regie, die sich auslöscht. Oder sagen wir besser: die sich im Ganzen auflöst. Wieder eine Qualität, die schwer zu definieren ist. Das deutsche Feuilleton indes liebt das Augenfällige, das Deutliche, Benennbare. Diesen Kategorien entzieht sich Julie Deliquets Arbeit. Man kann sie nur erfahren - in Form besonderer Stimmigkeit. Wenn sie da ist, erkennt sie jeder im Saal, sogar der Kritiker, von links bis rechts, jung bis alt, weiblich bis männlich bis weiblich.

... ohne Video ...

... ohne Schwimmbecken. 

 
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