Girls & Boys. Dennis Kelly.
Einpersonenstück.
Burgtheater Wien.
Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 8. März 2019.
Seit Menschengedenken pflegen die Theater die Spielzeit mit einem grossen, personenreichen Stück zu eröffnen, einem sogenannten schweren Klassiker, der es erlaubt, das ganze Ensemble vorzustellen. Die zweite Produktion steht danach im Zeichen des Sparens. Dafür greift die Dramaturgie gern auf ein Zweipersonenstück. Es besteht in der Regel aus einem Star, der zum Theaterbesuch animiert, und einem Stichwortgeber. Wenn es fünf Viertelstunden dauert, darf es als abendfüllend gelten. Dann lässt sich das Pausenbuffet einsparen, und auch manche Position in der Technik. Auf diese Weise bleibt das Budget, trotz "Wallenstein", im Lot.
Noch schlimmer als die Zweipersonenstücke sind die Einpersonenstücke. Weil der Stichwortgeber fehlt, ist die Grundsituation immer künstlich oder jedenfalls gesucht. Warum sollte jemand, der nicht meschugge ist, fünf Viertelstunden vor sich hin monologisieren? Es gibt ein paar rare Ausnahmen. Beckett hat's mit dem "letzten Band" geschafft. Und jetzt Dennis Kelly mit seinen "Girls & Boys". Das Burgtheater hat sie am 7. November zur österreichischen Erstaufführung gebracht.
Der Abend beginnt subtil. Während das Publikum in der winzigen Aufführungsstätte namens Vestibül Platz nimmt, ist Alexandra Henkel beschäftigt, ihre Spielfläche einzurichten. Mit der Fernbedienung lässt sie eine Art Warteraummusik erklingen. Dann holt sie, zum Prüfen der Beleuchtung, einen Zuschauer auf die Bühne. Er muss vor der Wand die Hand ausstrecken: Ist der Schatten sichtbar genug? "Danke. Sie können wieder Platz nehmen." Damit ist die Klippe des Anfangs umschifft. Die Aufführung kann ihre Fahrt aufnehmen.
Alexandra Henkel beginnt mit einer Lebensbeichte. Wie sie ihren Mann kennenlernte. Der Kritiker bleibt misstrauisch: "Das klingt viel zu trendig." Und er fällt das Urteil: "Bauernfängerei." Der Monolog kommt zum Filmbusiness und zum Antiquitätenhandel. Immer noch grosse Welt, jenseits unseres Alltags. Aber da spricht die Schauspielerin einzelne Zuschauer an. Sie nimmt sie ins Spiel, macht sie zu Vertrauten. Schon wächst das Publikum auf Alexandra Henkel zu. Das ist mehr, als der Kritiker erwartet hat: "Das Burgtheater kann eben schon mehr als andere Bühnen." Die Person, die zur Rede steht, wird immer glaubwürdiger. "An ihrer Stelle", denkt der Kritiker, "wäre es mir auch so gegangen". Spiel und Wirklichkeit verschmelzen ineinander.
Plötzlich spricht Alexandra Henkel zu zwei Kindern. Das Mädchen kommt links herein, der kleine Bruder spielt rechts am Boden. Der Kritiker gibt den Widerstand auf: "Hör auf zu analysieren. Überlass dich der Situation!" Da sagt die Schauspielerin: "Ich weiss, dass die Kinder nicht da sind. Ich bin nicht verrückt." Die Person, zu der sie spricht, sitzt in der zweiten Reihe, und der Kritiker merkt, dass er während der ganzen Vorstellung einer therapeutischen Sitzung beigewohnt hat. Aha. Darum der Monolog. Darum die Sprünge. Darum die Anstrengung, sich und seine Impulse jemand anderem durch Sprache klarzumachen. "Die Kinder sind tot", stellt Alexandra Henkel mit knappem Ton fest. Aber über ihr Gesicht rinnen die Tränen.
Damit hat die Vorstellung eine neue Stufe erreicht. Sie hat die Ebene der Geschichten verlassen. Wir sind mit "Girls & Boys" in den Bereich des Schicksals eingetreten und bewegen uns mit Alexandra Henkel in der unerklärbaren Wirklichkeit der Gegenwart. Der Kritiker muss seine Meinung über die Einpersonenstücke revidieren. "Ich habe wieder etwas dazugelernt", pflegte der alte Medizinprofessor Hans Koblet bei solchen Gelegenheiten zu sagen. "Danke."
Ich weiss ...
... die Kinder sind tot.