Das expressive Gebärdenspiel der Epoche. © Christian Kleiner.

 

 

 

Lotario. Georg Friedrich Haendel.

Oper.                  

Christian Curnyn, Carlos Wagner, Rifail Ajdarpasic, Guido Petzold. Konzert Theater Bern.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 25. Februar 2019.

 

 

Haendels Komposition ist zwar nicht genial, aber ausser­ordentlich gut gemacht. Und das genügte für den Zweck. Denn die Hauptsache leisteten die Sänger. Ihretwegen suchten die Londoner das Opernhaus auf. Nach der Virtuosität ihrer Gurgeln waren sie süchtig. Wenn der Star an die Rampe trat (nur dort war das Licht gut, das die Kerzen spendeten), verstummte das Getuschel im Saal. Zwei, drei Eingangstakte, um das Publikum einzustimmen und ihm Gelegenheit zu geben, den Eisstengel aus dem Mund zu nehmen und das Limonadeglas abzustellen, dann begann die Arie. Sie konnte nicht lang genug dauern, um die sängerische Lungenstärke und die Geläufigkeit der Stimmführung unter Beweis zu stellen. Aus diesem Grund wurden auch die einzelnen Teile des Lieds wiederholt. Als sogenannte Dacapo-Arien sind nun die Nummern in die Musikgeschichte eingegangen.

 

In Bern ist nachvollziehbar, woher der Zauber rührt, durch den nicht allein die Sänger, sondern auch (und vor allem!) der Komponist sein Publikum mit der dreistündigen Aneinander­reihung von Dacapo-Arien bestrickte. Das Geheimnis liegt im hypnotischen Zustand, in den das Hirn der Zuhörer durch das Auf und Ab der instrumentalen Begleitfiguren gerät. Dazu leistet das Berner Symphonieorchester unter Leitung von Christian Curnyn das Nötige. Auf diese Weise gelingt im Lauf der Aufführung immer wieder der Sprung in die Transzendenz. Plötzlich haben die Töne jenseitige Qualität. Und da fügt es Haendel mit seinen Arien, dass sich ereignet, was Diotima im "Symposion" ausführt: " 'An dieser Stelle im Leben, mein lieber Sokrates', sagte die fremde Frau aus Mantineia, 'wenn überhaupt irgendwo, ist das Leben für den Menschen lebenswert: wenn er das Schöne selbst schaut.' "

 

Im Unterschied zum Theater am Londoner Haymarket, wo "Lotario" am 2. Dezember 1729 herauskam, ist das Publikum am Berner Kornhausplatz während der Aufführung in seinen Stühlen festgeschraubt. An der Themse war der Zuschauerraum noch hell erleuchtet. Bei laufender Vorstellung konnten die Damen mit ihren Lorgnons Ausschau halten nach hochgewachsenen Gentlemen und jungen Leutnants; und die Herren konnten Ausschau halten nach Eis- und Limonadeverkäufern, mit deren Produkten sie die weibliche Welt für sich einzunehmen hofften. Noch Goethe hatte in der Direktionsloge am Weimarer Hoftheater für sich und seine Gäste stets einen Korb mit Wein und kaltem Poulet. In Bern aber sitzt man im Finstern. Der Blick geht nur in eine Richtung: Nach vorn. Auf die Bühne.

 

Unter solchen Aufführungsbedingungen ist es mit Musik und Gesang nicht gemacht. Es braucht auch eine Regie. Und in dieser Hinsicht passiert nun im Haus am Kornhausplatz Bemerkenswertes. Regisseur Carlos Wagner vollzieht nämlich mit seiner Arbeit die Struktur der einzelnen Gesangsnummern nach. Er findet für jeden Teil der musikalischen Konstruktion ein szenisches Äquivalent. So vergehen die langen Arien wie im Fluge, und die Inszenierung streift dabei - wie Haendels Musik – immer wieder ans Sublime.

 

Geschaffen wird das Wunder durch ein raffiniertes Zusammenspiel von Dekorationsteilen, Licht, Positionen, räumlichen Verschiebungen, Requisiten, Blickwechseln, Körperhaltungen und Interaktionen. Und da alle szenischen Vorgänge Sinn haben und Sinn schaffen, vereinigt das Spiel auf der Bühne inhaltliche Bedeutung mit künstlerischer Form. Ein solches Gleichgewicht nennt die Kulturwissenschaft Klassizität, das heisst Vorbildlichkeit.

 

Zeitgenosse Haendels war William Hogarth, der berühmte gesellschaftskritische Kupferstecher. An seinen Tafeln kann man studieren, wie Bezüge durch Diagonalen, Blicke und Gesten hergestellt werden. Die gleiche Kunst der Bezüge findet man nun bei "Lotario" im Berner Stadttheater. Da ist einmal die Tiefe des Raums. Sie wird gewonnen durch Sänger, die sich nach hinten bewegen. Die Ortsveränderung bringt die Steharie zur Fliessen. Der Gang verändert die Farbe des Tons. So wird die alte Nummernoper zu einem dynamischen Geschehen von hoher Spannung und prägnanter Aussage.

 

Ganz eindrücklich, um nur ein Beispiel zu nennen, ist die Szene, wo die Regie ausgesprochene und stumme Inhalte miteinander kombiniert. Im zweiten Akt wird ein weibliches Opfer von einem Tyrannen erpresst: Dolch und Gift oder Heirat und Liebe? Hinten aber, nur sichtbar für das Opfer, steht der Retter bereit. Damit entwickelt sich, parallel zum Strahl der Drohung, ein zweites, werbendes Spiel von ernsthafter und zugleich verheissungsvoller Koketterie. Enger und bewegender kann man auf der Bühne Eros und Thanatos nicht zusammen­bringen.

 

Wenn sich seinerzeit in London während der Aufführung das Publikum bewegen konnte, müssen in Bern Regisseur Carlos Wagner und sein Team (Bühne: Rifail Ajdarpasic, Licht­gestaltung: Guido Petzold) die Aufführung in Bewegung bringen. Und sie beginnen mit der Ouvertüre. Ursprünglich wurde das Instrumentalstück dazu verwendet, dass die Zuschauer die Logen von Freunden und Freundinnen verlassen und neben der Gemahlin Platz nehmen konnten. Jetzt wird die Nummer ausinszeniert. Der Vorhang geht auf und zeigt eine Szene von hoher Intensität: Wir werden, wie in der "Mausefalle" von "Hamlet", zu Zeugen, wie ein König vergiftet wird. Der Kelch fällt ihm aus der Hand, der Monarch stirbt, die Verschwörer triumphieren. Das Gebärdenspiel hat die Expressivität von Hogarths Stichen. Da aber gleitet der Vorhang wieder zu. Das Orchester setzt die Ouvertüre fort... So benutzt die Inszenierung das banale Musikstück der Eröffnungssequenz, um uns über die Vorgeschichte ins Bild zu setzen. Wenn daraufhin der Vorhang zum ersten Akt ordentlich aufgeht, dann wissen wir schon, mit wem wir es zu tun haben, und wir verstehen von Anfang an die Handlung und die Personen.

 

Die Komposition schreitet fort. Es folgt Nummer auf Nummer. Üblicherweise handelt es sich um eine blosse Aneinanderreihung von Arien, durch welche die Personen eingeführt werden. Die Berner Inszenierung macht aus dieser Exposition eine Sukzession, das heisst eine Steigerung, mit der die Stimmen unmerklich Raum und Schönheit erobern. Alle sind sie untadelig, die das Ensemble der sechs Sänger bilden: Andries Cloete, Todd Boyce, Marie Lys, Sophie Rennert, Ursula Hesse von den Steinen. Aber Kangmin Justin Kim, auf den die Anfangsnummern hinführen, ist Extraklasse. Mit der Biegsamkeit, Rundung und Wärme seines Gesangs stellt der Koreaner sämtliche hiesigen Countertenöre in den Schatten. Operndirektor Xavier Zuber hatte recht: "Wenn ich Oper mache, dann so."

 

"Lotario" spielt - wie alle ernsten Opern der Barockzeit - in den höchsten Sphären. Werk und Aufführung sind damit "an Majestät dem heroischen Gedicht gemäss". So definierte Martin Opitz 1624 die Tragödie in seinem "Buch von der Deutschen Poeterey". Demgemäss handelt "Lotario" "nur vom königlichem Willen / Totschlägen / Verzweifelungen / Kinder- und Vatermorden / Bränden / Blutschanden / Krieg und Aufruhr / klagen / heulen / seufzen und dergleichen."

 

Für die Haupt– und Staatsaktion zeigt die Bühne links ein Podest mit rotem Vorhang, Goldfransen und Goldtroddeln, und daneben rechts und hinten ein Malgerüst, hinter dem Geschichtsbilder am Entstehen sind. Bei jedem Regimewechsel müssen sie umgemalt werden. Wenn der Vorhang zum ersten Akt aufgeht, ist die Farbe noch nicht trocken. Einzelne Malkübel stehen noch herum. Zuweilen fällt ein Lichtstrahl auf die Leinwände und deutet an, was hinter der Szene geschieht: Brand, Krieg und Aufruhr, Seufzen und Klagen.

 

So wird Georg Friedrich Haendels "Lotario" zusammengehalten durch einen überlegenen Kunstverstand. Jedes Requisit hat seinen Sinn und wird mehrmals gebraucht. Am Anfang, in der Mitte und am Schluss kommt der Giftkelch zum Einsatz und macht klar, dass Thron und Königtum ohne Gewalt nicht auskommen. "Und nun ist die Macht an sich böse, gleichviel wer sie ausübe", schrieb dazu der Historiker Jacob Burckhardt, unser Mann auf der Tausendernote.

 

Thron und Königtum ... 

... ruhen auf Gewalt ... 

... und Leid. 

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