Titus Andronicus. William Shakespeare.
Tragödie.
Mizgin Bilmen. Konzert Theater Bern.
Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 23. Februar 2019.
"Wer nichts als Chemie versteht, versteht auch die nicht recht." Georg Christoph Lichtenberg (ca. 1780)
Wer etwas vom Theater verstehen will, muss den Kopf aufstrecken und die Augen über den Hag richten. Er erkennt dann in der Ferne zwei Leuchttürme. Den einen hat Arthur Schopenhauer errichtet: "Die Welt als Wille und Vorstellung". Darin erklärt der Philosoph, dass die Welt, die unsere Erkenntnis erfasst, nichts als eine Vorstellung ist (theatrum mundi). Hinter allen Erscheinungen jedoch steckt ein Wille: der Wille zum Leben, der Wille zum Dasein.
Diesen Willen findet der amerikanische Regisseur, Kritiker und Theatertheoretiker Harold Clurman "naturgemäss", hätt' ich beinahe gesagt, auch im Drama. Weil hinter dem Stück ein Wille steckt, läuft es auf etwas hinaus. Und weil die handelnden Personen ebenfalls etwas wollen, betreten sie die Bühne. Sie haben einen Beweggrund. Er veranlasst sie, das Wort an andere zu richten. Er veranlasst sie auch, am Ende wieder abzutreten. - Der Wille, sagt Clurman, ist die Wirbelsäule. Sie trägt das Stück. Sie trägt jede einzelne Szene und jede einzelne Figur. In seinem grossen Buch übers Regieführen, "On Directing", weist er die Bedeutung des Willens an zehn verschiedenen Werken nach.
Am Berner Schauspiel nun weigert sich Regisseurin Mizgin Bilmen, dem Willen des Stücks zu folgen. Sie widersetzt sich seinem Lauf. Deshalb versteht man nicht, warum sie Shakespeares "Titus Andronicus" inszeniert und wozu das Gezeigte taugen soll. Man sieht nur, dass die Regisseurin den Bogen durch radikale Kürzungen zerschlägt. Nun stehen einzelne Scherben beziehungslos nebeneinander. Der Zusammenhang ist entsorgt. Erkenntnisgewinn: null.
Den zweiten Leuchtturm, der fürs Theater Orientierung gibt, hat Emil Staiger errichtet: "Die Zeit als Einbildungskraft des Dichters". An Gedichten von Brentano, Goethe und Keller weist der Germanist nach, wie entscheidend die Gestaltung der Zeit für die lyrischen Gebilde ist. Und nun erst fürs Theater! Was auch immer auf der Bühne gezeigt wird, bewegt sich in der Eindimensionalität des Zeitstrahls. Kein Theatermacher kommt darum herum, dieser Gegebenheit Rechnung zu tragen. - Die Zeitfrage beschäftigt den Dramatiker bei der Anordnung der Handlung und die Ausübenden beim Finden des stimmigen, der Vorstellung adäquaten Rhythmus'.
Bei "Titus Andronicus" am Berner Schauspiel fehlt das Spiel mit der Zeit. Die Aufführung hat deshalb einen langweiligen, starren Gang. Mizgin Bilmen macht eine Inszenierung fürs Auge und bietet ein gleichförmiges, zähes Arrangement von Bildern statt einen lebendigen Puls mit Beschleunigungen und Verlangsamungen.
Ohne es zu wissen, begeht das Berner Schauspiel mit "Titus Andronicus" ein bedeutsames theatergeschichtliches Jubiläum: Fünfzig Jahre Regietheater! 1969 inszenierte der 30jährige Peter Stein in Bremen "Torquato Tasso" von Goethe und machte den Dichter zum Clown. Der Skandal war immens. Im selben Jahr brachte das Theater Basel "Titus, Titus" heraus, "50 theatralische Vorgänge nach der Tragödie 'Titus Andronicus' von William Shakespeare". Der 36jährige Regisseur Hans Hollmann liess darin auf offener Bühne Hunde kopulieren. Der Skandal war immens. Aber damit war das Regietheater geboren.
Seither ist es von keiner deutschen Bühne mehr wegzudenken. Was jedoch als Aufstand begann, ist heute Konvention. Mizgin Bilmen zieht deshalb, wie die meisten Frauen am Theater, den schönsten und jüngsten Darsteller aus: David Brückner von der Hochschule der Künste. Da jedoch am Schauspiel Bern David Berger das Abonnement darauf hat, den Pimmel zu zeigen, darf er auch. Lustgewinn: null.
Das Regietheater der Enkelgeneration lässt jetzt Titus in einer roten Clownsperücke auftreten. Und besetzt ihn mit einer Frau, ohne damit den Bedeutungs- und Darstellungshorizont erweitern zu können. Fortschrittsgewinn: null.
So gibt es aus dem Westen von Zürich nichts Neues zu berichten. "Titus Andronicus" ging daneben. Wer's nicht glaubt, schaue nach und urteile selbst. Das ist ohnehin das Beste. "Lasst euch euer Ich nicht stehlen, das euch Gott gegeben hat, nichts vordenken und nichts vormeinen, aber untersucht euch auch erst selbst recht und widersprecht nicht aus Neuerungssucht." (Georg Christoph Lichtenberg)
Einzelne Scherben ...
... beziehungslos ...
... nebeneinandergestellt.