Aus dem Bleistiftgebiet: Felix-Szenen. Robert Walser.
Schauspiel.
Henri Hüster, Selina Howald, Jasmine Lüthold. Konzert Theater Bern.
Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 16. Februar 2019.
"Geht mal spielen!" Dazu werden Marie Popall, Gabriel Schneider und Sebastian Schulze, die drei Jüngsten des Berner Schauspielensembles, unters Dach geschickt. Marie Popall kann das S nicht sagen. Auch nicht das Sch, das W und das X. Sebastian Schulze hingegen spricht gut; und Gabriel Schneider, wie immer, hervorragend. Betreut vom dreissigjährigen "Nachwuchsregisseur" (KTB) Henri Hüster bewegen sich die drei im Sandkasten. Selina Howald hat ihn auf den Mansardenboden gestellt. Ein Kinderpiano steht da. Es begleitet mit seinem hellen Geklimper die Rezitation von Kritzeleien, die Robert Walser mit dem Bleistift auf fünfhundert Blättern in der Irrenanstalt Waldau niedergelegt hat. Lange galten sie als unlesbar. Nun füllen die sogenannten "Mikrogramme aus den Jahren 1924-33" sechs Druckbände mit insgesamt 2935 Seiten. Aus ihnen haben der Regisseur und seine Dramaturgin Lea Lustenberger eine Fassung mit den sogenannten Felix-Szenen gewonnen. Den Vergrösserungsvorgang der Entzifferung deuten sie an, indem sie das Rieseln des Sandes durchs Mikrofon einfangen und durch Lautsprecher verstärken. Für einzelne Passagen kommt auch ein Ständermikrofon zum Einsatz. Damit liegt die Aufführung im Trend. Mit dem üblichen Vortrag eines Songs, Wiederholungen und stummem Spiel dauert der Abend fünf Viertelstunden.
Am Anfang steht die Ermordung einer jungen Frau, die Felix zugetan war. Gründe werden keine genannt. Es ging ganz mechanisch zu; Felix war wie ein Hampelmann, sagen die Schauspieler, und nehmen dazu die entsprechende Pose ein. Dann turnen sie mit ausgestreckten Armen auf dem Rand des Sandbeckens, sprechen einzelnen Zuschauern ins Gesicht und schaffen damit einen mimischen Bezug zwischen den Publikumsreihen und dem Geschehen im Ring. Die Geschichte aber (verstanden als Vorfall und Erzählung) bleibt rätselhaft abseitig. Walsers Sprache, gefangen im Korsett einer selbstgerechten, bünzligen Schweiz, gibt sich harmlos und gutwillig, rutscht aber, wie Felix, der Mörder, immer wieder aus. In diesem Setting lässt sich die Inszenierung auffassen als Anamnese: Die einzelnen Szenen beschreiben, wie es zu den Traumatismen kam, die Felix zur unverständlichen Tat brachten. Sie stammen aus dem kleinbürgerlichen Heim mit seinen Topfpflanzen.
Um das klar zu machen, klettern die Schauspieler auf ein Podest und ziehen sich die Kostüme über, welche Jasmine Lüthold bereitgelegt hat. Von oben ertönen die autoritär-erzieherischen Sätze, die wie Hiebe auf den Menschen im Sandkasten herunterkommen. Das Publikum reagiert darauf mit Glucksen. Immer, wenn sich das Theater avanciert gebärdet, verbergen die Zuschauer ihre Verlegenheit hinter einer belustigten, bzw. wissenden Miene. Denn seit der Romantik haben die Künstler ihnen vorgeworfen, sie seien zurückgeblieben. Nun wollen sie diesen Ruf nicht mehr auf sich sitzen lassen und geben sich als wohlwollende, aufgeschlossene Mitverbündete. So lachen sie heute in München (und morgen in Berlin) zum Mord an Agamemnon, und in Bern bringen sie Felix' Verletzungen zum Prusten. Tragik geht heute nicht mehr; weder die von Sophokles noch die von Walser.
Die Inszenierung in der Mansarde ist an diesem Sachverhalt nicht unschuldig. Sie gebärdet sich gegenüber der Vorlage mit turnerisch-kindlichen Verrenkungen. Und indem sie Walsers Szenen mit freundlicher Indifferenz im Verschwommenen lässt, nimmt sie in Kauf, dass sich das Publikum den falschen Reim macht. Interpretation kann man das nicht nennen. Und Haltung auch nicht.
Sandkastenspiel.
Hinter Topfpflanzen.
Mit Verrenkungen.