Fierabras. Franz Schubert.
Heroisch-romantische Oper.
Mario Venzago, Elmar Goerden, Silvia Merlo, Ulf Stengl, Lydia Kirchleitner. Konzert Theater Bern.
Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 28. Januar 2019.
Bis zur ersten grossen Renovation von 1980 wies das Theater der Bundesstadt eine sogenannte Bühnenschräge auf. Der Boden war gegen den Zuschauerraum hin leicht geneigt. Die Bauweise geht auf die Erfindung des höfischen Rangtheaters zurück, und solch ein höfisches Rangtheater imitiert eben auch das Theater der Bundesstadt. Der beste Platz befindet sich im ersten Rang Mitte. Dort ist die Bundesratsloge. In Wien befand sich dort bis 1918 die Kaiserloge, in Karlsruhe die Fürstenloge und in Saarbrücken bis 1945 die Führerloge.
Von diesem Logenplatz aus hat man den richtigen Blick. Die Perspektive der Kulissen läuft auf das Auge des Herrschers zu, und von seinem Standort aus wirkt der Bühnenboden nicht schräg, sondern flach. Alle anderen Zuschauer sehen die Dinge verzerrt. Sie müssen ihre Wahrnehmung korrigieren, indem sie sich innerlich an den Platz des Fürsten setzen und die Vorstellung aus seinen Augen betrachten.
So zeigt das höfische Rangtheater (und mit ihm das Theater der Bundesstadt), dass nur einer den richtigen Blick hat. Für alle anderen – auch räumlich untergebenen – gilt das Paulus-Wort: "Jedermann sei untertan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat. Denn es ist keine Obrigkeit ohne von Gott; wo aber Obrigkeit ist, die ist von Gott verordnet. Wer sich nun der Obrigkeit widersetzt, der widerstrebt Gottes Ordnung; die aber widerstreben, werden über sich ein Urteil empfangen." Am Abend der Aufführung von Franz Schuberts Oper "Fierabras" in Bern bildet nun nicht nur das Haus, sondern auch das Werk genau diese Weltsicht ab.
Aktualisierende Regisseure würden die Handlung in Berlin ansiedeln, wo der libanesische und der vietnamesische Clan aufeinander losgehen, beide geführt von der eisernen Hand des Patriarchen, der auch – als Preis für Treue, Dienst und Gefechtssieg – die Tochter dem Günstling vergibt, ohne sich um die Neigung der Beteiligten zu scheren. Aber für Schubert spielt das Stück nicht in Berlin, sondern in einem imaginären Theatermittelalter. Regisseur Elmar Goerden belässt es dort.
Auf die Ritterzeit antwortet er mit der Bühnenschräge, und auf den Stil der Oper mit Kulissen, die auf- und abgehen (Bühne: Silvia Merlo, Ulf Stengl). In jedem Schauspiel und in jeder Oper der Schubert-Zeit (auch in "Fierabras") gab es die Schauplätze Saal, Wald, Kerker, Hof, Zimmer, und sie kehrten in jeder Produktion unverändert wieder. Dieses ewige Einerlei zeigt sich in Bern darin, dass die Kulisse nur noch einerlei zeigt: flache graue Kreise. Sie sind ausgestanzt aus einer Folie - und damit imitiert die Bühne sowohl die mechanische Faktur von Libretto und Komposition wie auch das mechanische Getriebe der Macht, das "Fierabras" prägt.
Auf diese Weise bildet die Inszenierung, zu 99 Prozent werktreu, den konventionellen, uninspirierten Stil der Oper nach, indem sie die uninspirierte Konventionalität der Fünfzigerjahre imitiert. Die geometrischen Chorauftritte, die sich edel und zurückhaltend gebende Kostümierung (Lydia Kirchleitner), die schematische Sängerführung waren damals in der Berner Oberer-Zeit und in Wieland Wagners Neu-Bayreuth gang und gäbe. Nach den Regie-Experimenten unseres Spielzeitbeginns mit "Così" und "Bohème" kann sich das Publikum jetzt zurücklehnen: Endlich wieder courant normal!
Damit das Ganze aber nicht allzu behaglich wird, baut die Regie kleine Widerströmungen ein, die der damalige Starkritiker des "Bund" (-tt-) als "Mätzchen" abgetan hätte: Als Requisit, um den Troubadour zu bezeichnen, dient nicht eine Leier, sondern ein Harfenkasten auf Rädern. Wenn der Führer "fort!" ruft und den Zeigefinger nach rechts ausstreckt, geht die Hälfte des Chors nach links ab. Und im gespanntesten Moment der Handlung muss sich eine Figur vernehmlich schneuzen. So zeigt die Inszenierung, wie "Fierabras" im konventionellen Sinne gemeint wäre, und rückt gleichzeitig innerlich leicht davon ab. Um diesen Spagat zu bemerken, braucht es allerdings ein scharfes Auge. Ein schläfriges Publikum kann ohne weiteres nickend weiterdösen. Für Bern also das Richtige: "Medium".
Schuberts beflissene und gleichwohl uneinheitliche Partitur gibt der Chefdirigent des Berner Symphonieorchesters mit bemerkenswertem künstlerischem Einsatz wieder. Die tiefen Streicher: eine Wonne. Die tremolierenden Geigen: packend. Die Blechbläser: warm und singend. Und die Holzbläser stechen mit kecken solistischen Einwürfen heraus. So steigert Mario Venzago die "heroisch-romantische Oper" ins Klassische hinauf. " 'Klassisch' bedeutet so viel wie 'absolut vollkommen' ", schreibt Gabriele Wirsich-Irwin. Und: "Dieser Begriff ist nicht an eine bestimmte Zeit gebunden." Das bringt die musikalische Seite der Aufführung eindrücklich zu Gehör.
Die Rollen sind aus dem Ensemble besetzt. Die meisten gut, einzelne vorzüglich. Die Gäste bringen die Glanzpunkte. Doch so gepflegt die Produktion auch ist, es gelingt ihr nicht, die Erfahrung der Pariser Kritik ausser Kraft zu setzen, die alle zwei Wochen eine "Wiederentdeckung" besprechen muss: "Es hat schon seinen Grund, warum das Werk so lange vernachlässigt wurde."
Das Stanzwerk der absolutistischen Macht ...
... im Auf und Ab der Kulissen.
Dazu ein paar Mätzchen: z.B. der Harfenkasten.