Das Missverständnis. Albert Camus.
Schauspiel.
Claudia Meyer, Michael Wilhelmi. Konzert Theater Bern.
Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 21. Dezember 2018.
Die Doyenne rührte keine Hand. Sie stand noch während dem Schlussapplaus auf und verliess aufrecht den Saal. Ihre Kollegin war gar nicht erst angereist. Während der ganzen Aufführung blieb der Platz in der ersten Reihe Mitte leer.
Das internationale Grossfeuilleton lässt sich eben bei seiner Berichterstattung von folgenden Fragen leiten: Ist es ein Name, den man im Auge behalten muss? Wenn nein: Ist es eine Produktion, die etwas über unsere Zeit sagt? Wenn nein: Ist die Machart neu? Wenn alle drei Fragen mit nein zu beantworten sind, verzichtet das internationale Grossfeuilleton auf einen Bericht aus der Provinz. "Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt" indes befindet sich nicht in dieser komfortablen Lage. Sie muss über alles berichten, was in Bern läuft. Sogar über "Das Missverständnis".
Nun denn. Zum ersten Mal kam das Drama in seiner heute bekannten Form am 13. Oktober 1809 in Coppet über die Bühne. Schauplatz ist das 2000 Meter hoch gelegene Hospiz Schwarenbach unweit des Daubensees auf dem Weg von Kandersteg nach der Gemmi. Zacharias Werner, der Autor, war damals Gast der Madame de Staël. Im Privattheater ihres Schlosses – heute befindet sich dort die Bibliothek – spielte Germaine de Staël selber die Mutter, und ihr Geliebter, der Philosoph Benjamin Constant, übernahm die Rolle des Sohns, der von den Eltern bei seiner Rückkehr ermordet wird.
"In antikisch zusammengepresster Räumlichkeit, Zeitlichkeit und Handlung", schreibt Werner Kohlschmidt, "ist ein Äusserstes an Schauerlichkeit der Wirkung erstrebt und erreicht. Das Motiv entstammt dem Volks- und Bänkelliede und ist der Moritatensphäre gemäss mit gespenstischer Schauerlichkeit geradezu aufgeladen. Es handelt sich um das Motiv des ausgewanderten, mit schwerer Geldkatze ins Elternhaus zurückkehrenden Sohnes, den der eigene Vater des Goldes wegen nächtens erschlägt. Familientragödie, Kriminaldrama mit Mord und Totschlag zugleich, zähneklappernde Bösewichte, die zurückbleiben, um nach dem Raubmord am eigenen Kind in Verzweiflung und Selbstmord zu enden – es ist eigentlich ganz schön ..."
Das Schauerlichste indes liegt verborgen hinter dem Titel. Zacharias Werner hat nämlich die Tatsache, dass seine lang schon dem religiösen Wahn verfallene Mutter an einem 24. Februar starb und am selben Tag auch einer seiner Jugendfreunde aus dem Leben schied, zum Anlass genommen, dem einaktigen Trauerspiel den Titel "Der 24. Februar" zu geben.
Die öffentliche Uraufführung des "24. Februar" erfolgte, wie könnte es anders sein, ein halbes Jahr nach Coppet am 24. Februar 1810 am Weimarer Hoftheater. Regie führte der Intendant selbst, Johann Wolfgang von Goethe. Mit Werner hoffte er einen Nachfolger Schillers heranziehen zu können. Deshalb liess er das Stück, wie Heinz Kindermann berichtet, mit grösster Sorgfalt einstudieren: "Die Weimarer Uraufführung wirkte tatsächlich überwältigend. Die Schauspieler hatten sich selbst überwunden, um das Unheimliche ausnahmsweise mit realistischen Mitteln zu bewirken. Goethe war über diese Aufführung so befriedigt, dass er – eine grosse Seltenheit – danach auf der Bühne erschien und den Schauspielern lobend erklärte: 'Natur und Kunst sind jetzt auf das engste miteinander verbunden.' In seine 'Annalen' aber trug er ein: es 'wurde ein Triumph vollkommener Darstellung. Das Schreckliche des Stoffs verschwand vor der Reinheit und Sicherheit der (bühnengemässen) Ausführung; dem aufmerksamsten Kenner blieb nichts zu wünschen übrig' ".
In Bern nun kommt "Der 24. Februar" unter dem Titel "Das Missverständnis" auf die Bretter, und die Überschreibung stammt von Albert Camus. Regisseurin Claudia Meyer macht dabei den zurückgenommenen Stil der Weimarer Hofbühne rückgängig. Melodramatische Klavierimprovisationen (meisterlich: Michael Wilhelmi) evozieren den "Tod und das Mädchen", das "Tristan"-Vorspiel und weitere befrachtete Schicksalstöne, so dass das Weimarer Publikum die Berner Aufführung als Steigerung des Eindrucks aufgefasst hätte, den Goethes Inszenierung hinterliess. In einem Brief schrieb damals Henriette von Knebel: "Dass der vierundzwanzigste Februar sich mit schwarzer Farbe in mein Gedächtnis eingedrückt und mir Mark und Bein erschüttert hat, kann ich nicht leugnen."
So drückt sich nun die Berner Inszenierung mit schwarzer Farbe in unser Gedächtnis ein. Alles ist auf Vergrösserung und Pose hin gespielt. In keiner Minute darf der Eindruck realistischer Beiläufigkeit aufkommen, den das Einfühlungstheater anstrebte. Wären Ibsens "Gespenster" (ein später Abkömmling der Gattung Schicksalsdrama) so gespielt worden, das Berner Publikum hätte gebuht. Bei Camus aber dachte es, der Aufführungsstil sei halt modern, und Claudia Meyer mache es immer so. Und in der Tat: Sie pflegte nicht nur ihre gekünstelte Handschrift weiter, sondern zog auch wieder ihren Lieblingsdarsteller Nico Delpy aus. Zu glauben, die Aufführung werde damit bedeutsam, wäre jedoch ein Missverständnis.
"In zusammengepresster Räumlichkeit, Zeitlichkeit und Handlung" ...
... wird der schöne Nico Delpy wieder einmal ausgezogen.