Hänsel und Gretel. Engelbert Humperdinck.
Märchenspiel in drei Bildern.
Andreas Baesler, Harald B. Thor. Staatstheater Nürnberg.
Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 16. Januar 2019.
"Hänsel und Gretel" ist die beste Wagner-Oper, die Wagner nicht geschrieben hat. Darum wird sein Porträt in den ersten Takten des Vorspiels auch von der Wand gehängt und entfernt. Es bleiben die himmlischen Längen. Zwischen den Zwei- und Vierzeilern der Adelheid Wette, die ein unendlich rührendes, weil unbeholfenes Libretto gezimmert hat, strömt die Musik. Es geht zwar nicht um den Gral, sondern nur um ein Lebkuchenhäuschen. Aber Engelbert Humperdinck knüpft seinen Soundteppich mit Solostimmen, symphonischem Orchesterklang und Schlagzeugakzenten, als müsste er dem Märchenspiel die letzte Weihe geben.
Die Oper stammt eben aus den Gründerjahren, und da konnte es nicht protzig genug zugehen. In Frankreich entstand unter Napoleon III. das neue Paris von Baron Haussmann, und in Wien die Ringstrasse unter Franz Joseph II. Die massiv auftrumpfende Bürgerlichkeit der Industriekapitäne, Entrepreneurs und Börsenspekulanten stand aber auf tönernen Füssen, und das macht Harald B. Thors Bühnenbild in der Inszenierung von Andreas Baesler von Anfang an deutlich. Der schwere Wohnraum einer gestern noch achtbaren Familie (Vater, Mutter, Gouvernante, zwei Kinder) wird vom Pfändungsbeamten heimgesucht, und die guten Stücke (Standuhr, Schmuck, Bilder) werden von grauen Bediensteten mitleidlos hinausgetragen. Der Weihnachtsbaum ist zwar schon geschmückt, aber es wird keine Geschenke mehr geben. Das Vorspiel ist aus. Der Gazevorhang hebt sich. Ab jetzt sind wir arm.
Dass die Kinder Hunger haben, dass nichts mehr auf den Tisch kommt, dass sie in den Wald geschickt werden, um Beeren zu suchen, hat nun die spannende Komponente der sozialen Erniedrigung. Sie macht das Gruseln verständlich, welches das Opernpublikum bei Humperdincks dick belegtem Armutsgemälde empfand. Deshalb kann die Lesart der Nürnberger Oper nicht anders als kongenial bezeichnet werden. Sie aktualisiert das Werk, indem sie in die Gegenwart seiner Entstehungszeit hineinführt und seine Bedeutung für die damaligen Menschen nachvollziehbar macht.
Hinzu kommt ein ungewöhnlich kluges und spannendes Spiel mit hintersinnigen Zeichen und aussagestarken Requisiten. Mit ihm füllt Regisseur Andreas Baesler die Längen der Oper, in denen nichts passiert ausser Musik. Auf diese Weise nährt der Fluss der Partitur das Geschehen auf der Bühne. Jeder Moment ist gefüllt; dramaturgisch, musikalisch, psychologisch, historisch, soziologisch. Bis zur Pause entwickelt sich die Handlung als fortlaufende Steigerung. Sie erreicht ihren Kulminationspunkt in dem Moment, wo die festen Wände der Bürgerwohnung auseinanderbrechen, die lastende Decke mit dem Kronleuchter entschwebt und der grüne, feuchte, dunkle Wald von der Szene Besitz ergreift.
Und jetzt kommen wir zur Hexe. Es ist die Gouvernante. Sie hat sich nicht verwandelt, so wenig wie das Lebkuchenhaus, das der Vater am Ende des ersten Bilds in die Wohnung gebracht hat. Von nun an bleibt die Aufführung stecken. Der Sog ist versiegt, die Personenführung wurde konventionell, das Spiel ist verdorrt. Wie konnte das passieren?
Zum Glück teilt ein regieführender Intendant den Nebensitz. Er hat die Erklärung: "Die Produktion hat Jens-Daniel Herzog (der jetzige Intendant des Staatstheaters Nürnberg) von seinem Vorgänger Peter Theiler (jetzt an der Dresdner Oper) übernommen. Sie entstand in Koproduktion mit dem Théâtre du Capitole de Toulouse. Premiere war im Dezember 2013. Damals war der zweite Teil sicher so dicht wie der erste. Aber bei den Wiederaufnahmeproben hat die Zeit – und vielleicht auch die Inspiration – nicht gereicht, allen Teilen den selben Schliff zu geben." So hat "Hänsel und Gretel" in Nürnberg jetzt zwei Gesichter. Wer in der Pause geht, wird an eine reiche Opernerfahrung zurückdenken; wer nach der Pause kommt, wird sich langweilen.
Die eigentliche Weihnachtsbescherung ...
... kommt in der finsteren Nacht ...
... in Gestalt der Gouvernante.