Die Orestie. Aischylos/Walter Jens.
Schauspiel.
Wojtek Klemm, Katrin Kersten, Efrat Stempler. Staatstheater
Augsburg.
Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 16. Januar 2019.
Im Hotel logieren fünfzig Lehrer zur Fortbildung. Und im Theater findet die Prüfung statt. Wer sich nicht vorbereitet hat mit Wikipedia (gratis), Programmheft (gratis) und Einführung (gratis), fällt bei der "Orestie" des Augsburger Schauspiels durch. Die Ausrede, es habe zum Lernen nicht gereicht, weil der Zug dreieinhalb Stunden Verspätung eingefangen habe, zählt nicht. "Dann hättest du eben früher aufstehen sollen!" Die Inszenierung ist gnadenlos. Das alte Schulwissen reicht nicht, um zu verstehen, was der steinerne Kopf eines Hirschs, auf dem die Schauspieler herumturnen, mit dem trojanischen Krieg zu tun hat. Diana? Paris? Menelaos? Helena? Ach, wenn man nur googeln könnte! Aber das ist während der Vorstellung verboten. Also schummelt man sich durch und versucht, sich seinen Reim zu machen, damit es im Zeugnis wenigstens heisst: "Hat sich Mühe gegeben."
Einiges versteht man. Der gesetzte Mann mit dem dicken nackten Bauch und der gelben Perücke ist Apollo. Er sagt es selbst. Demzufolge bedeutet seine weisse E-Gitarre die Lyra. Halt modernisiert. Dass die übrigen Schauspieler ebenfalls mit diesem Instrument ausgerüstet werden, ist vielleicht ein Hinweis auf den Chor der Musen. Waren's nicht neun? Oder zwölf? Wie auch immer. Miteinander zupfen sie "Freude, schöner Götterfunken". Das ist natürlich als Hinweis auf die EU zu verstehen. Damit das jeder merkt, wird hinten als Projektion die EU-Flagge eingeblendet. So schlägt die Inszenierung den Bogen von der Antike zur Aktualität. Maske und Kothurn fehlen; dafür kommt das Gestenrepertoire der Gegenwart zum Einsatz. (Ach, YouTube hätte man auch in die Vorbereitung miteinbeziehen müssen!)
Ein Schauspieler zitiert Victor Orbán. Das soll uns darauf aufmerksam machen, dass die neuen Nationalismen die friedliche Völkergemeinschaft gefährden. Das haben wir zwar schon begriffen; aber das Augsburger Schauspiel bläut es uns wieder ein, wie ein hartnäckiger Lehrer, der in seinem Unterricht die Repetition nicht vernachlässigt.
Den Gegensatz zwischen damals und heute gibt die Inszenierung dadurch wieder, dass sie einerseits die antiken Verse im Chor rezitieren lässt, anderseits alltagssprachliche Zweisilber einsetzt. Spricht Orest zu Klytämnestra, sagt er "Mama", und wenn er von Agamemnon redet, sagt er "Papa". Der Chor seinerseits zieht sich immer wieder mit "Entschuldigung!" aus der Affäre.
Um den Schrecken der mythologischen Vorgänge anschaulich zu machen, wird aus Einar Schleefs Blecheimern kübelweise Blut vergossen. Das haben wir zwar seit 1990 schon ein paarmal gesehen. Trotzdem sind einzelne dramatische Ballungen echt packend. Etwa, wenn das Beil zur Ermordung Klytämnestras geschliffen wird. Wojtek Klemm (Regie) und Efrat Stemmler (Körperarbeit) machen daraus eine grosse Nummer. Die Intensität kleiner Momente indes wird man nicht erleben. Das liegt weniger daran, dass die Handlung auf der blanken expressionistischen Schräge zerflattert (Bühne: Karin Kersten), als dass die jungen Schauspieler nicht mehr gelernt haben zu reden.
Da sieht man, was die Abschaffung der Sprechausbildung an den Schauspielschulen, die sich heute Hochschulen der Künste nennen, gebracht hat. Man sieht auch, dass es die wenigsten begabten jungen Leute noch ans Theater zieht, und gar nach Augsburg! Die Aufstiegsmöglichkeiten sind gering, der Minimallohn jämmerlich. Die Einstiegsgage liegt laut deutschem Bühnenverband bei 1765 Euro monatlich. Zwei Drittel aller Schauspieler müssen ihr Leben lang mit weniger als 2500 Euro auskommen. Wer, bitteschön, möchte sich dafür als Bachelor oder Master of Arts von einem g'stopften Kritiker aus Bümpliz verreissen lassen?!
Was hat der Kopf eines Hirschs ...
... mit dem trojanischen Krieg zu tun?