Barkouf ou Un Chien au pouvoir. Jacques Offenbach.
Opéra-bouffe.
Jaques Lacombe, Mariame Clément, Julia Hansen. Opéra national du Rhin, Strassburg.
Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 10. Dezember 2018.
In Frankreich herrscht ununterbrochen Terroralarm. Auch am zweiten Advent. Die Strassenbahn vom Bahnhof zur Oper fährt deshalb an zwei Stationen durch, ohne zu halten. Denn die Haltestellen befinden sich in einem – wie soll man sagen? - umfriedeten Bezirk: dem Strassburger Weihnachtsmarkt. In ihn kommt man nur durch eine Eingangsschleuse. Und hier muss jeder Besucher den Inhalt seiner Tasche zeigen.
Der Weihnachtsfriede ist also in diesem verrückten Jahr 2018 noch in weiter Ferne. Am Samstag, nur gerade vierundzwanzig Stunden zuvor, haben zum vierten Mal die Manifestationen der "Gilets jaunes" stattgefunden. Dabei wurden landesweit 1700 Personen verhaftet. Über 80'000 Polizisten standen im Einsatz.
Nun dringen im umfriedeten Bezirk der Place Broglie die Töne eines Karussells durch das Nelkenaroma des Glühweins. Hunderte von Familien schlendern durchs Tannengrün der Budengassen. Mitten im Trubel aber steht das altehrwürdige Strassburger Opernhaus. An seinem Portal sammeln sich die Menschen zu Trauben. Männer in gelben Westen (am Rücken tragen sie die Aufschrift "sécurité") sammeln die Schirme der Besucher ein. Offenbar müssen die Sicherheitsleute mit allen Eventualitäten rechnen. Beim Schweizer Militärmesser schlägt der Metalldetektor Alarm. "Ah non, Monsieur!"
Im Innern des Opernhauses (einer wahren Stradivari unter den Musiktheaterbühnen; keine andere reicht an ihre Akustik heran) - im Innern des Opernhauses hebt sich der Vorhang zur Offenbach-Wiederentdeckung des Jahres. Seit der Premiere am 24. Dezember 1860 an der Opéra comique von Paris schlummerte das Werk in den Archiven. Erst Jean-Christophe Keck zog es für Boosey & Hawkes/Bote & Bock ans Licht, und die Verlage brachten es in diesem Jahr 2018 zur Publikation.
Als sich indes die Verantwortlichen der Neuproduktion an die Arbeit machten, lag erst eine Transkription des Librettos vor, das Eugène Scribe und Henri Boissaux verfasst haben. Im Verlauf der ersten Proben wurden Dirigent, Regisseurin und Bühnenbildnerin die einzelnen Partiturnummern stückweise übermittelt.
Regisseurin Mariame Clément sah sich bei diesem Prozess zurückgeworfen auf die Produktionsbedingungen des 19. Jahrhunderts. "Es war wie bei einer Uraufführung", erklärt sie im Programmheft. Derweil erkannte Jacques Lacombe, der Dirigent, Stück um Stück die Schönheit der Komposition: "In der Behandlung des Orchesters findet sich eine Klassizität, die an Mozart oder Mendelssohn erinnert. Das merkt man am Gesamtklang. Besonders beeindruckend ist die schwerelose, differenzierte Sprache der Bläser und Streicher."
Dazu kommt – das ist bei der Aufführung deutlich zu hören - die Könnerschaft, mit der die einzelnen Gesangsstimmen komponiert sind. Die Linien sind gleichzeitig einprägsam, virtuos und für die Bühne ergiebig. Die Inszenierung braucht ihnen bloss zu folgen, um Wirkungen von buffonesker Klassizität zu gewinnen (ich setze voraus, dass man in diesem Begriffspaar keinen Widerspruch erkennt).
Die Handlung spielt weit weg von uns in Lahore. Für Offenbach und seine Zeitgenossen, die noch das Glück hatten, vor der desaströsen Erfindung des Luftverkehrs zu leben, war das Werk in unerreichbarer, exotischer Ferne angesiedelt. Das Bühnenbild von Julia Hansen respektiert diesen Rahmen; bloss unterstreicht es die Bedeutung des Schauplatzes und den Charakter der Verhältnisse durch kluge Aktualisierung.
Die Handlung spielt in einen Unterdrückungsregime. Dafür stehen die Kostüme (ebenfalls von Julia Hansen) und die titoistisch-stalinistisch-ulbrichtschen Resopalwände, die das Geschehen im ersten Akt umschliessen. Die Atmosphäre ist also äusserst beklemmend. Durch sie antwortet das Bühnenbild mit scharfer Dialektik auf die Karikatur eines Markttreibens, welches mit schielenden Augen Fröhlichkeit vortäuscht wie in allen diktatorischen Staaten.
Schon ertönt Marschmusik. Der korrupte Vertreter des Regimes tritt auf. Volk und Diener verneigen sich. Gleichzeitig jedoch singen sie: "Er bedroht uns, geben wir ihm Raum, beugen wir die Stirn mit Furcht. Aber das Opfer, das man unterdrückt, wird ihm bald sein Gesetz zu spüren geben." Schon haben uns Offenbach und seine Librettisten die Schlinge um den Hals gelegt.
In Szene 3, Nummer 2, Lied, tritt ein junger Mann auf und singt: "Ich liebe den Krawall, das Scheibeneinschlagen. Was mich ärgert, demoliere ich mit meiner Wut. Die hohen Würdenträger amüsieren sich nicht. Wir aber, die schreien, wir sind es, die lachen. Das Pflaster, die Steine, die Stöcke, die Knüppel verschaffen mir mein Recht. Wo immer das Gewitter grollt, findet man mich aufrecht, findet man mich immer, ich bin überall!”
Um Gotteswillen, wo sind wir? Die Oper entstand 1860, und nun spielt sie in unserer Gegenwart! Regisseurin Mariame Clément anerkennt die Aktualität des Werks, indem sie, wie in einem Spiegelkabinett, die verschiedenen Zeitebenen ineinanderlaufen lässt. Sie macht das zurückhaltend, vornehm und unangestrengt wie weiland Günther Rennert an der bayerischen Staatsoper, der letzte grosse Vertreter einer dienenden Haltung gegenüber dem Werk.
Bei der Wiedergeburt von Offenbachs verkannter Oper "Barkouf oder ein Hund an der Macht" ist diese Klassizität in mehr als einem Sinn angebracht. Es geht nicht darum, die Produzenten in Szene zu setzen, sondern das Werk. Nun tritt ohne Gefuchtel und Mätzchen der ätzende Kern der Opéra-bouffe in voller Schärfe hervor, und der Beweis, dass "Barkouf" ein langes Leben bevorsteht, ist glänzend erbracht.
Wie im Traum verlässt man das Haus. Die Sänger waren leicht und sicher, und das Orchester exakt, differenziert und (Höre Stuttgart! Höre Biel!) nie zu laut. Dafür allein hätte es sich schon gelohnt, nach Strassburg zu fahren. Am Ausgang bekommt man seinen Schirm und sein Militärmesser zurück und seufzt: "Schade, ist es vorbei! Wenn Offenbach nur alle bösen Geister dieser Welt so bannen könnte!"
Schon ist die Schlinge um unsern Hals gelegt.
Die Braut rechts aussen trägt Schnauz.
Um Gotteswillen, wo befinden wir uns?