Mondlicht. Harold Pinter.
Schauspiel.
Johannes Lepper, Doreen Back, Sabine Wegmann, Rolf Lehmann. Konzert Theater Bern.
Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 10. November 2018.
Für die Schweizer Erstaufführung von Harold Pinters spätem Stück "Mondlicht" stellt Bühnenbildnerin Doreen Back eine Manege zur Verfügung (hervorragend ausgeleuchtet von Rolf Lehmann). Die Darsteller bewegen sich da jedoch nicht in Sägespänen, sondern in knöcheltiefem Wasser. Das gibt ihren Bewegungen eine eigentümliche Sinnlichkeit.
Das keck aufspritzende, schwatzhaft gurgelnde, hell schäumende Element behält sein Geheimnis, auch wenn es im Lauf der Handlung besudelt wird. Es ist da und es bleibt und es dauert. Die Menschen aber sind die Vorübergehenden.
So wird in Vidmar 1 die Bühne, wie Goethe gesagt hätte, zum symbolischen Lokal. An ihm und seiner Möblierung (Zirkusgeräte) kann man die "Grundantinomien des Daseins" ablesen: Kommen und gehen, da sein und weg bleiben, handeln und spielen, reden und schweigen, sterben und trauern.
Durch diese Konzeption wird die Aufführung so reich wie das Leben selbst. Darum kann niemand sagen, er hätte das Stück begriffen. Dann nämlich müsste er auch behaupten können, er habe das Leben begriffen, mitsamt dem Tod. Wer aber mit leeren Händen vor den grossen Fragen steht, der wird von der traumhaft intensiven Aufführung reich beschenkt.
Mit der Verfremdung des Spielorts (Wasser statt Sägespänen, Manege statt Bühne) nimmt das Regieteam eine Transposition vor. Transpositionen sind eine wichtige Strategie, um Neues zu gewinnen. Das Neue aber ist "die Urquelle aller poetischen Schönheit". Das statuierte bereits 1740 der Zürcher Gymnasiallehrer Johann Jakob Breitinger. Und er führte in seiner "Critischen Dichtkunst" aus, dass das "Neue seine verschiedenen Grade und Staffeln haben müsse, je nachdem es mehr oder weniger von unseren Sitten abgehet und sich entfernet. Je nach dem Grade dieser Entfernung wächst und verstärket sich die Verwunderung, die durch das Gefühl dieser Neuheit in uns entstehet." Die Veränderung des Vertrauten "wird das Gemüte in eine angenehme und verwundernsvolle Verwirrung hinreissen, welche daher entspringet, weil wir mit unserm Verstand durch den reizenden Schein der Falschheit durchgedrungen und in dem vermeinten Widerspruch ein geschicktes Bild der Wahrheit und eine ergötzende Übereinstimmung gefunden haben."
Auch wenn uns von der Sprache des Zürcher Ästhetikers 280 Jahre trennen, beschreibt sie gleichwohl treffend, was Johannes Leppers Inszenierung von Pinters "Mondlicht" in uns wachruft: Ein staunendes, "verwundernsvolles" Schauen auf die Vorgänge des Lebens, intensiviert durch hintergründige Verweise auf die Archetypen der Theater- und Filmgeschichte. Diese Anspielungen geben der Sache Tiefe, auch für den, der sie nicht versteht.
Da ist Gelsomina aus Fellinis "Strada" (mit traurig abwesendem Blick verkörpert von Daniela Luise Schneider). Da ist die einsame Trompete mit ihren gedehnten Klagelauten (Sonja Ott). Da ist der Schauspieldirektor Bruscon mit Frau und Kindern, souverän herbeizitiert von Stéphane Maeder. Der alte, lebensvolle Grantler stirbt einen berührend leisen Theatertod, nachdem er vorher noch die Krone und den Trotz des abtretenden Königs Lear aufgesetzt hat.
Die Mutter trägt ein langes, intensiv leuchtendes rotes Gewand, das sich allmählich mit Wasser vollsaugt und damit das Verfliessen der Zeit wundersam wiedergibt (Kostüme: Sabine Wegmann). Chantal Le Moign rührt die Töne des Aufbegehrens und Resignierens subtil ineinander und hebt sich milde ab von den scharf umrissen Chargen der Besucher (Lilian Naef, Andreas Matti). Und da sind noch die Söhne. David Berger und Sebastian Schulze bewegen sich lebensvoll juvenil und selbstbezogen wie die meisten männlichen Wesen ihres Alters.
Dieser Menschengruppe zuzuschauen ist an sich schon faszinierend, weil sie so viele Erinnerungen an Selbsterlebtes wachruft. Die Aufführung aber steigert ihre Intensität noch um viele Grade durch die Verwendung des surrealistischen Vokabulars und die Evokation existentieller Grundtrauer. Damit lotet sie die Dimensionen der literarischen Vorlage bis ins Unaussprechliche aus. - Über allen Vorgängen aber hängt die Schwermut des Unwiederbringlichen. Sie charakterisiert jede Situation des Abschiednehmens. Und Johannes Lepper nimmt sie ernst. Auf diese Weise kommt er bewundernswert nah und doch eigenständig ans Stück. Durch eine überlegene Mischung von Ernst und Humor, Ausgelassenheit und Stille schafft er einen grossen, unvergesslichen Abend.
Lebensvoll juvenil.
Selbstbezogen.
Und traumhaft verloren.