In der Löwengrube. Felix Mitterer.
Schauspiel.
Stephanie Mohr, Miriam Busch. Theater in der Josefstadt, Wien.
Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 20. November 2018.
Die berühmteste Spiegelkonstruktion der Theatergeschichte findet sich in "Hamlet". Der Prinz will seiner Mutter und ihrem Buhlen eine Erregung abgewinnen, die sie verrät. Zu dem Zweck führt er ihnen den Königsmord vor, an dem sie beteiligt waren. Das Drama – ein glänzendes Beispiel fürs "Theater im Theater" – trägt den Titel: "Die Mausefalle".
Solch eine Mausefalle spielt jetzt das Theater in der Josefstadt für die Enkel und Urenkel der Nazigeneration. In der französischen Literaturwissenschaft nennt man Spiegelkonstruktionen " mise en abyme", zu deutsch: In-Abgrund-Setzung. Und fürwahr; in Felix Mitterers Schauspiel mit dem Titel "In der Löwengrube" tut sich – gerade in der Josefstadt – Abgrund um Abgrund auf.
Im Zentrum steht nämlich eine wahre Begebenheit, die sich im traditionsreichen Theaterhaus ereignet hat. Nachdem sich der jüdische Schauspieler Leo Reuss (eigentl. Reiss) in der Maske des arischen Salzburger Bauern Kaspar Brandhofer nach Wien geschlichen hatte, wurde er ab 10. Oktober 1936 Ensemblemitglied der Josefstadt. Da gab er am 2. Dezember 1936 seine Debütrolle als Dorsday in der Dramatisierung von Schnitzlers Novelle "Fräulein Else". Doch nach sieben Vorstellungen flog der Trug auf.
Heute nun kommt die Geschichte auf die Bretter jener Bühne, auf denen sie sich zugetragen hat. Mise en abyme. - Und die Aufführung ereignet sich wieder in einem Achter-Jahr. 1918 brach die Habsburger Monarchie zusammen, Österreich wurde zum ersten Mal Republik. 1938 kam das Land ans Deutsche Reich, der Name Österreich wurde verboten. Alle jüdischen Mitglieder des Ensembles erhielten Auftrittsverbot.
Die Jahreszahlen 1918 - 1938 - 1968 - 2018 stehen heute gross und unübersehbar an der Fassade des Hauses. Auf diese Weise stellt sich die Bühne unter der Direktion von Herbert Föttinger ihrer Geschichte und weist mit beklemmendem Ernst auf die Abgründe hin, die in der Tiefe der Vergangenheit liegen. Die Aufführung von Felix Mitterers "Löwengrube" am Ort des Geschehens erweist sich damit als Spiegelkonstruktion von einmaliger Wucht.
Der Vorhang geht über einer Vorstellung auf, die schon am Laufen ist: "Der Kaufmann von Venedig" wird gegeben. Wir sehen (Theater im Theater) von hinten auf die Schauspieler. Es ist Florian Teichtmeister, der den Juden verkörpert. Eben spricht Shylock die Sätze: "Ich bin ein Jude. Hat nicht ein Jude Hände, Gliedmassen, Werkzeuge, Sinne, Neigungen, Leidenschaften? Mit der selben Speise genährt, mit denselben Waffen verletzt, denselben Krankheiten unterworfen, mit denselben Mitteln geheilt, gewärmt und gekältet von ebendem Winter und Sommer wie ein Christ? Wenn ihr uns stecht, bluten wir nicht? Wenn ihr uns kitzelt, lachen wir nicht? Wenn ihr uns vergiftet, sterben wir nicht?" - An dieser Stelle muss die Vorstellung abgebrochen werden. Die Störungen durch den braunen Mob sind zu stark. Es weht ein neuer Geist. Der Jude muss gehen.
In der Gestalt eines Tiroler Bauern kehrt der Schauspieler zurück. Die Drehbühne von Miriam Busch kehrt uns jetzt die andere Seite zu, "die Wirklichkeit". Als Tiroler Bauer wirkt Teichtmeister kleiner, gedrungener. Er tritt zum Vorsprechen an: "Durch diese hohle Gasse muss er kommen." Und da steht – Wunder der Verwandlung – Tell auf der Bühne, mit seinem grossen Monolog:
"Ich lebte still und harmlos – Das Geschoss
War auf des Waldes Tiere nur gerichtet,
Meine Gedanken waren rein von Mord -
D u [Gessler] hast aus meinem Frieden mich heraus-
Geschreckt, in gärend Drachengift hast du
Die Milch der frommen Denkart mir verwandelt,
Zum Ungeheuren hast du mich gewöhnt –"
Noch nie waren diese Verse so eindringlich zu hören - wegen ihrer Abgründigkeit. Wir werden nämlich Zeugen einer doppelten, ja dreifachen Brechung: Teichtmeister spielt einen Juden, der einen Arier spielt, der den Tell spielt. Und jedem von ihnen glaubt man den andern (also Teichtmeister, dem einmaligen, alle drei). Ein Triumph der Schauspielkunst.
Um dem Stück die volle Wirkung zu geben, inszeniert es Stephanie Mohr redlich, geradlinig und schlicht. Denn auf der Glaubwürdigkeit der Figuren ruht die Geschichte. Wir nehmen der Aufführung die Mises en abyme gerne ab, wenn Alexander Strobele den Bühnenmeister so spielt wie ein Bühnen-Meister und Claudius von Stolzmann den Goebbels in einer derart dämonischen Weise, dass die Kreatur leibhaftig vor uns steht. Auf der anderen Seite reissen zwei ältere Schauspieler die Aufführung auch wieder weit nach unten. Sie übertreiben, sie sind unglaubwürdig. André Pohl nimmt man den gekränkten Säufer nicht ab, und Peter Scholz nicht den schusseligen Theaterdirektor. Da klaffen plötzlich Lücken in der Geschlossenheit der historischen Rekonstruktion, die einem Haus vom Rang der Josefstadt nicht anstehen.
Goebbels, leibhaftig!
Und der Tiroler Bauer.