Beresina oder Die letzten Tage der Schweiz.
Schauspiel nach einem Drehbuch von Martin Suter.
Konzert Theater Bern.
Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 20. Oktober 2018.
Diesen Herbst findet die Albisgüetli-Tagung im Stadttheater Bern statt. Die engagierten, unerschütterlichen Gesinnungsgenossen können in der Stallwärme geteilter Überzeugung durch Applaus ihrer Befriedigung Ausdruck geben, dass es "denen" von der Bühne herab endlich wieder einmal gezeigt wird. Mit "denen" ist die "classe politique" gemeint. Und unter "classe politique" verstehen die senkrechten Unkorrumpierbaren den Filz von Armee, Wirtschaft und Politik. Da kennt jeder jeden, und jeder benutzt den andern, um seine Stellung zu optimieren. Das aber bedeutet, dass alle Akteure getrieben sind vom "sacro egoismo", den schon Mussolini anprangerte.
Bunkermentalität. Und dahinter Schweinereien und Perversitäten. Im Folterkeller des Berner historischen Museums legen die Herren Anzug und Krawatte ab und lassen sich, wau, wau!, von der russischen Domina an der Leine führen. Der Banker in der Hundemaske kann zwar jaulen, aber hoch kriegt er ihn nicht. Und der General kann nur knallen, jedoch nicht schiessen, denn seine Munition ist blind. So stösst man auf lauter ungereimte, grausige Dinge, sobald man nur anfängt, unter die Oberfläche zu schauen. Zu dem Zweck lässt die Stadttheatermaschinerie die ganze Unterbühne hochfahren. Der Laie staunt: Was die alles können! Jetzt begreifen wir, wozu das Haus renoviert wurde.
Beim hässlichen Spiel der politischen Akteure werden natürlich die Büezer und Ausgebeuteten beschissen. Und am beschissensten sind die ausländischen Frauen. Die sizilianische Akademikerin muss ihr Brot als Putzfrau verdienen, weil ihr Diplom von der Schweiz nicht anerkannt wird. Und der russischen Migrantin wird das Schweizer Bürgerrecht in Aussicht gestellt, wenn sie ihre Klienten aus Armee, Wirtschaft und Politik aushorcht.
Man merkt: "Beresina oder Die letzten Tage der Schweiz" führt Jämmerlichkeit und Hysterie der staatstragenden Eidgenossen vor, und das Berner Stadttheater wendet sich mit seiner Albisgüetli-Tagung an die Leserschaft der WOZ. Dass Andersdenkende kraft besserer Einsicht in ihrer Überzeugung wankend werden, steht nicht im Programm. Sondern der Anlass dient dazu, den Gesinnungsgenossen das gemeinsame Schweizbild in einer Feier der politischen Einmütigkeit zu bekräftigen. Affirmation, nicht Diskussion.
So bringt der Abend kein Stück, keine Revue, kein Kabarett, kein Musical, sondern, nun, sagen wir: eine Manifestation. Manifestationen aber werden nicht gespielt, sondern zelebriert. Darum die Langsamkeit des Ablaufs (im Programmheft steht dafür: "Inszenierung"). Und weil der Schauspieldirektor verantwortlich zeichnet, kann das Haus die schwere Batterie auffahren. Nichts vom teatro povero der freien Szene. Das richtige politische Bewusstsein entfaltet sich hier im Goldportal, und der Abend mit dem Titel "Beresina oder Die letzten Tage der Schweiz" wird zum staatstragenden Festspiel fürs rot-grüne Bern.
Zwei Schauspieler ragen heraus: Irina Wrona und Jürg Wisbach. Ihr Spiel hat Klasse und ihre Darstellung Kraft. Wenn die nicht wären! Dann adieu!
Perversitäten.
Schweinereien.
Jämmerlichkeiten.