Kammerspielartige Intensität. © Klara Beck.

 

 

 

Pelléas et Mélisande. Claude Debussy.

Oper.                  

Frank Ollu, Barrie Kosky, Klaus Grünberg. Opéra national du Rhin, Strassburg.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 22. Oktober 2018.

 

 

Barrie Kosky und sein Bühnenbildner Klaus Grünberg beginnen mit Weglassen: "Ich wollte kein Meer, keine Türen, keine langen, wallenden Haare. Ich wollte absolut keine Möbel auf der Bühne", schreibt der Regisseur im Programmheft. Nun beschränkt sich die Szene auf eine kleine Drehbühne mit drei konzentrischen Ringen. Sie werden von drei hintereinander­gestaffelten Portalen eingefasst. In diesem engen Rahmen kann sich die Handlung weder breitmachen noch verlieren. Das andeutungsvolle Raunen des Symbolismus ist in einen distinkt wahrnehmbaren Ablauf gefasst, analog zum Klanggeschehen der Partitur. So läuft das Spiel zwischen Golaud, Mélisande und Pelléas mit nie gesehener Dichte und Intensität ab.

 

Gleichzeitig entspricht der enge Ausschnitt, in dem das Drama den Zuschauern dargeboten wird, der Enge der Sphäre, in der sich die Figuren bewegen. Sie nehmen die Aussenwelt nur durch einen Spalt wahr: "Wieder wurde am Meer ein Bauer gefunden, der des Hungers gestorben ist", stellt Golaud fest. Aber seine Liebe beschäftigt ihn stärker.

 

Im weiteren entspricht der reduzierte Bühnenausschnitt (re-duziert = zurück-geführt [aufs Wesentliche]) dem schmalen Fenster, durch das betrachtet uns die strömende Zeit als Gegenwart vorkommt. Im "Point of Now" verwirklicht sich die Partitur als Klang, das heisst als hörbares Geschehen. Vorher und nachher ist sie stumm.

 

Und gleich, wie sich die Töne von Claude Debussys Meisterpartitur im Lauf der Aufführung realisieren, bringt das Bühnenbild auf seinen konzentrischen Ringen die Figuren ins Spiel. Sie treten nicht auf, und sie treten nicht ab; sie erscheinen und verschwinden, wie die Töne der Instrumente aufleuchten und verlöschen. Dadurch setzt die Produktion das enigmatische Werk kongenial in szenisches Geschehen um und bringt in der flüchtigen Dimension des Hier und Jetzt "Pelléas et Mélisande" zur Wirklichkeit. Ein konzeptioneller Meister­streich.

 

Die Umsetzung führt an der Opéra national du Rhin zu tief beeindruckendem Theaterglück. Die Sänger und das Orchestre philharmonique de Strasbourg sind dem Inszenierungsgedanken in einer Weise gewachsen, die man sich vollkommener nicht denken kann. Darum sehnt man sich am Tag nach der Aufführung an die Place Broglie zurück. Mit einem einmaligen Besuch ist die Schönheit der Oper nicht ausgeschöpft. Man sollte diese Produktion noch einmal durchleben können.

 

Einen wesenlichen Teil des Gelingens verdankt die Realisation den hervorragenden Stimmen und ("native speakers!") der makellosen französischen Diktion. So kommen Sprache und Gesang zu seltener Vollendung. Niemand steht zurück. Von dieser Homogenität könnte sich die Wiener Staatsoper eine Scheibe abschneiden. Bei ihr liegt manches im Argen. Nicht aber in Strassburg. Da sind die Sänger, was Alter und Ausstrahlung angeht, so rollengerecht besetzt, dass ihre Darstellung Kammerspielqualität erreicht.

 

Auf diese Weise geht Barrie Koskys Konzept ohne Rest auf. Der Regisseur inszeniert nämlich tangential. Das heisst: Alles, was auf der Bühne zu sehen ist, kommt von irgendwo her und führt irgendwo hin. Aus diesem Grund ist die Darstellung nicht illustrativ, sondern evokativ. Und gleichzeitig wird die Aufführungsgegenwart um drei Dimensionen erweitert: Ums Vorher, ums Nachher und ums Dahinter. Man spricht gern von der Mehrschichtigkeit des Kunstwerks. Hier ist's getan.

 

Mit seinen eigenständigen Bildern antwortet das Bühnen­geschehen dem Charakter der Musik. Auch in ihr kommen die Klänge durch viele unaufgelöste Harmonien irgendwo her und führen irgendwo hin. Man kann diese exakt bemessene Weite in der fabelhaften Strassburger Opernakustik bis auf den letzten gezupften Harfenton verfolgen, dank der phänomenalen Leistung von Orchester und Dirigent.

 

Frank Ollu ist Spezialist für französische und zeitgenössische Musik. Regelmässig arbeitet er mit dem Ensemble Modern. Und jetzt leitet er das subtile Spiel der konzentrischen Ringe um "Pelléas et Mélisande" mit souveräner Freiheit. Sie ist das Kennzeichen von Meister­schaft und macht die Produktion zum Ereignis.

Tangentialer Inszenierungsstil. 

Das Geschehen hat ein Vorher. 

Der Gegenwart folgt ein Nachher.

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