Cosí fan tutte. Wolfgang Amadeus Mozart.
Oper.
Kevin John Edusei, Maximilian von Mayenburg, Christoph Schubiger. Konzert Theater Bern.
Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 15. Oktober 2018.
Nach den ersten drei Tönen ist man hingerissen: Ein blosses Intervall zwar, aber so packend, dass es ist, als hörte man's zum ersten Mal. Es beginnt mit einem Aufschrei. Ihm antwortet die Tiefe (pabamm) mit trockener Faktizität: "Ja, so ist es halt." Dann steigt das Oboensolo auf, aber nicht mit verklebten Augen, sondern neugierig nach vorn drängend, wie wenn es von einem Schimmer in der Ferne angezogen würde: der Verlockung. In den leidenschaftlichen Ausbruch des Orchesters mischt sich aus der Tiefe ein resigniertes Brummen: "Was wollt ihr? So machen's alle!"
Diese Rede holt Kevin John Edusei mit meisterhaft geführtem Stab aus dem Berner Symphonieorchester, das zu sprechen beginnt und damit einlöst, was Mozart als erster Komponist in die Operngeschichte eingebracht hat: Das Orchester als Mitspieler; das Orchester als Partner des Geschehens. Und in der Ouvertüre ist es allein auf dem Podest. Die Interpretation macht deutlich, wie Mozart in dieser Meisterpartitur die musikalische Schönheit steigert zu funkelnder Intelligenz und abgründiger Belebung des Tonmaterials. Eine Offenbarung. In Bern zu hören.
Dann aber geht mitten im Klanggeschehen der Vorhang auf, und das fein gesponnene Netz der kompositorischen Bezüge wird brutal zerrissen. Das Auge muss jetzt einer spiegelnden Bartheke entlangwandern, die die ganze Bühnenbreite einnimmt. Es sieht zwei sturzbetrunkene Paare, reglos auf roten Hockern zusammengesunken, und einen dösenden Maskenballfiguranten, der mit seinem durchtrainierten Body einen feschen Amor spielte.
Während das Orchester im Presto fragmentierte Motivelemente repetitiv durch Flöten, Oboen, Klarinetten und Fagotte laufen lässt, kehrt vorne ein Barmann mit breitem Besen das zerbrochene Geschirr eines Polterabends zusammen. Und da begegnet man zum zweiten Mal der Unzulänglichkeit der Regie: Sie entwickelt ihre Ideen nicht aus der Musik, sondern aus dem Kopf. Da liegt der Grund, warum "Così" in Bern nicht zur grossen Aufführung wird.
Dabei ist das Konzept – soweit es aus der Aufführung ablesbar ist – tief gedacht: Maximilian von Mayenburg nimmt an, dass es die Paare vor dem ehelichen Treueschwur noch einmal richtig krachen liessen. Und jetzt, im Suff, regen sich die unterdrückten Zweifel: "Habe ich die Richtige genommen? Wäre die andere nicht besser gewesen?" Im Traum, der zum Alptraum auswächst, nimmt der simple Barmann die Züge eines zynischen Philosophen und diabolischen Strippenziehers an.
Unter dieser Annahme braucht die Inszenierung das Libretto nicht mehr eins zu eins umzusetzen. Die jungen Männer können sagen, dass sie gehen, und gleichwohl bleiben. Sie können behaupten, sie kämen zurück, und dabei sind sie nie weggewesen. Die Handlung spielt in der angehaltenen Zeit der Benommenheit. Darum klatschen Guiglielmo die hängenden Hosenträger während der dreistündigen Aufführung unentwegt an die Beine: Das Geschehen umfasst chronologisch nur einen Augenblick; Vorher und Nachher existieren ungeschieden nebeneinander.
Im chaotischen Durcheinander des Traumlebens braucht das Unwahrscheinliche nicht mehr motiviert zu werden, das dem realistischen Erzähltheater so viel Mühe machte. Am Ende des 19. Jahrhunderts fragte der Musikkritiker Dr. iur. Eduard Hanslick entrüstet: "Gibt es einen dürftigeren Stoff für eine ganze Oper, als die Wette zweier Offiziere, die Treue ihrer Bräute verkleidet zu erproben? Gibt es eine abgeschmacktere Zumutung an den Köhlerglauben der Zuschauer, als die fortdauernde Blindheit der beiden Heldinnen, welche ihre Liebhaber, mit denen sie eine Viertelstunde zuvor noch gekost, nicht erkennen, ja ihr eigenes Kammermädchen unter einer Allonge-Perücke ohne weiteres für den Arzt, dann für den Notar halten?"
In Bern stellen sich diese Probleme nicht. Dafür andere. Verführt vom geschmäcklerischen Bühnenbild Christoph Schubigers lässt sich die Inszenierung vom klaren Kurs ins anekdotische Plappern abdrängen: Die Duschkabine; die einsame Strassenlampe; das Röhricht der Uferböschung; das Platzen der Illusionen durchs Anstechen von Ballonen. Mit solchen Mätzchen illustriert die Inszenierung, was besser nicht gezeigt worden wäre; etwa den Reigen der Verführer durch die eher unwilligen Männer des Theaterchors; etwa den hufeisenförmigen Magneten des Doktor Mesmer.
Die Personenführung ist ordentlich, kippt aber immer wieder ins Überflüssige, Illustrative und Überzeugungsarme. Dazu gehört sämtliches Festhalten an realistischen Requisiten wie Staubtücher, Messer und Gläser, wo doch im Theater die blosse Anwesenheit einer Person genügt, um die Szene zu füllen. Das zeigt Oriane Pons' Darstellung meisterhaft. In der letzten Probenwoche ist die Pons für eine erkrankte Kollegin eingesprungen, und jetzt singt sie an der Premiere die Fiordiligi statt der Despina. Ihre grosse Arie (No. 25 – Rondò) und das Duetto Guglielmo-Dorabella (No. 23) mit Michal Marhold und Eleonora Vacchi lassen sängerisch und darstellerisch keinen Wunsch offen – gerade, weil die Handlung nach innen genommen wurde. Und da atmet auch die Inszenierung mit der Musik und das Orchester mit der Bühne.
Für die freigewordene Despina sprang das jüngste Ensemblemitglied ein: Orsolya Nyakas. Sie sang an der Premiere zwar exakt, aber nicht gelöst, mit einer Tendenz zum Schleppen. Und der Tenor Nazariy Sadivskyy wurde an ein, zwei Stellen über seine Grenzen hinausgeführt. Das Ensemble war also weniger homogen als in den früheren Mozart-Produktionen.
An die erinnerte indes der Verwandlungsdarsteller Todd Boyce. Vor zwei Jahren hatte er im "Figaro" den Grafen Almaviva gesungen. Letztes Jahr den Don Giovanni. Jetzt den Don Alfonso als Barmann, der sich dadurch realisiert und an seiner dienenden Stellung rächt, dass er mit den andern spielt. - An Boyce zeigen sich die Meriten der amerikanischen Schule: Hineinschlüpfen in den Part, bis der Kern gefasst ist. Dann wird die Darstellung glaubwürdig, und der Darsteller unterscheidet sich von einer Rolle zur andern.
Die Don-Alfonso-Interpretation vereint sich mit dem Ernst des Inszenierungskonzepts: Der Mann, so betörend sein Gesang auch sei, ist auf Abwegen. Wer sich auf ihn einlässt, verliert den Halt, und seine Welt zerfällt in Trümmer. Deshalb lässt sich das zerbrochene Geschirr, das wir am Schluss wiederfinden, nur noch wegkehren, nicht aber kitten.
Durch ihre zyklische Anlage nimmt die Aufführung "Così fan tutte" nicht als Experiment, sondern als Exempel: Der Anspruch an Gewissheit führt ins Bodenlose. So notierte sich schon Mozarts Zeitgenosse Georg Christoph Lichtenberg: "Zweifel muss nichts weiter sein als Wachsamkeit, sonst kann er gefährlich werden."
Der Mann, so betörend sein Gesang auch sei, ist schon auf Abwegen.
Wer den Anspruch an Gewissheit zu weit treibt, gerät ins Bodenlose.
Gleich werden die Ballone - und damit die Illusionen - zum Platzen gebracht.