Lucrèce Borgia. Victor Hugo.
Schauspiel.
Denis Podalydès. Comédie-Française, Paris.
Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 3. Oktober 2018.
In seiner "Kulturgeschichte der Neuzeit" dekretiert Egon Friedell: "Man kann Schiller nicht nachahmen oder vielmehr: wenn man ihn nachahmt, wird er unerträglich." Den Beweis für die Wahrheit dieses Satzes liefert die Comédie-Française. Dort läuft, in der fünften Spielzeit, Victor Hugos Tragödie "Lucrèce Borgia" vor ausverkauften Häusern. Die Vorstellung wird am 18. Oktober live in die Pathé Cinémas übertragen, und dann, als Aufzeichnung, noch einmal am 18., 19. und 20. November.
Was das Publikum anzieht, ist das grausame Spiel der Mächtigen, das hier offengelegt wird: Schöne Worte, glänzende Versprechen, und dahinter Spionage, Wortbruch, Wechsel der Koalitionen je nach Lage der Dinge, Elimination von Feinden und unbequemen Gefolgsleuten mit Dolch und Gift ... Die immerwährende Aktualität der Klassiker halt. Um das darzustellen, konstruiert Victor Hugo ein Mahlwerk des Grauens. Sobald die liebende Unschuld in seinen Mechanismus gerät, wird sie zerrieben.
Der dreissigjährige Dramatiker häuft Schrecknis auf Schrecknis: Dunkle Geheimnisse. Furchtbare Voraussagen einer Zigeunerin. Verschiedene Warnzeichen, die aus Leichtsinn oder falsch verstandener Tugend missachtet werden. Am Ende kommt es zum Muttermord durch die vergiftete Frucht eines geschwisterlichen Inzests. "Alors Madame, vous êtes ma tante!", ruft Gennaro, der reine Tor. Doch bevor er am Gift verendet, stösst er Lucrèce das Messer in den Bauch, um daraufhin von der Sterbenden zu vernehmen: "Je suis ta mère!"
Über diese Art Pathos wird sich Nestroy zwanzig Jahre später mit seinen Hebbel- und Wagnerparodien lustig machen. Und Alfred Jarry wird es, nochmals vierzig Jahre später, mit Vater Ubu ins absurd Groteske steigern. Aber noch funktioniert die Schauerdramatik, auch wenn die Motivierung schwach ist. Ein Schwachpunkt auch bei Schiller. Doch für Egon Friedell ist es gerade eine Offenbarung seines Theatertemperaments, "dass er es mit dem Schicksal seiner Figuren nicht so besonders genau nahm und es ihm weniger auf Psychologie und Logik als auf starke Effekte, Stimmungen und Bilder ankam."
Gleich sieht es der alte Goethe: "Und wie er überall kühn zu Werke ging", erinnert er sich in seinen Gesprächen mit Eckermann, "so war er auch nicht für vieles Motivieren. Ich weiss, was ich mit ihm beim 'Tell' für Not hatte, wo er geradezu den Gessler einen Apfel vom Baum brechen und vom Kopf des Knaben schiessen lassen wollte. Dies war nun ganz gegen meine Natur, und ich überredete ihn, diese Grausamkeit doch wenigstens dadurch zu motivieren, dass er Tells Knaben mit der Geschicklichkeit seines Vaters gegen den Landvogt grosstun lasse, indem er sagt, dass er wohl auf hundert Schritte einen Apfel vom Baum schiesse. Schiller wollte anfänglich nicht daran, aber er gab doch endlich meinen Vorstellungen und Bitten nach und machte es so, wie ich ihm geraten."
An der Comédie-Française inszeniert Denis Podalydès nun Victor Hugos Schauerdrama im Stil der Werktreue und verzichtet aufs hämische Denunzieren der Vorlage. Keine Figur wird der Lächerlichkeit preisgegeben. So entfaltet sich die Fabel in einer, man möchte fast sagen: naiven Weise. Leider aber mit uneinheitlichen Leistungen. Neben den Spitzenschauspielern Eric Ruf (der vor allen!) und Serge Bagdassarian wirkt der ganze Rest nicht mehr als anständig, manchmal gar schwach.
Es bleibt dem Zuschauer überlassen, wie er auf die Vorstellung reagieren will. Er kann jenes überlegene Lächeln wählen, mit dem Erwachsene auf die Spiele von Kindern hinunterblicken. Er kann mit dem Interesse des Literaturhistorikers studieren, zu welchen Blüten Victor Hugos erhitztes Gemüt fähig war. Er kann sich aber auch unvoreingenommen der Geschichte aussetzen und sich den Erfahrungen hingeben, die sie ihn ihm auslöst, gemäss Walther Killys ernstem Wort: "Wer nicht wohlmeinend liest, der kann nicht eigentlich lesen." Je nach Standpunkt wird der Betrachter in "Lucrèce Borgia" verschiedenes finden. Die Inszenierung lässt ihm die Freiheit. Das deutsche Feuilleton findet diese Art, Theater zu machen, überholt, und setzt sie auf den Index. O sancta simplicitas!
Starke Effekte und Bilder statt Psychologie und Logik.