Die Liebe quirlt die Menschen durcheinander. © Jean-Louis Fernandez, coll. Comédie-Française.

 

 

 

Was ihr wollt. (La Nuit des rois ou Tout ce que vous voulez.) William Shakespeare.

Schauspiel.                  

Thomas Ostermeier, Nina Wetzel. Comédie-Française, Paris.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 3. Oktober 2018.

 

 

An einem Ort, wo sich Affen mit Menschen kreuzen, ein halb verwester Arm aus dem Boden ragt, die Zeit an die Zeitlosigkeit stösst, ein Neonkranz aus Viebrockschen Wartsälen an der Decke hängt und der Boden mit weissem Sand bedeckt ist – an einem solchen Ort ist der aufdeckende Wahnsinn möglich, den Shakespeare in seinem Lustspiel "Twelfth Night or What You Will" für die Szene entfaltet hat (Bühnenbild: Nina Wetzel). Die Menschen sind alle geschlagen: Von der Liebe, vom Neid, von der Furcht, von der Bosheit, vom Laster, von der Trauer, von der Treue. Die Schauspieler der Comédie-Française lassen die Facetten so ineinandergleiten, dass man aus dem Staunen nicht herauskommt: Woher bloss haben sie's? Ihr überragendes Talent ist mit den Händen zu greifen. Und da liegt der grosse, unverdiente Vorzug der Begabung. Denn "Talent" ist griechisch und heisst auf Deutsch: "Geschenk der Götter".

 

Auf den Zuschauer wirkt das Talent als Evidenz, das heisst als unmittelbare, selbstverständliche Überzeugungskraft aller schauspielerischen Handlungen. Dafür braucht es Mass. Unmass – zu wenig, zu viel – weckt Unzufriedenheit, Unmut, Fragen. Mass beruht auf Erfahrung, Kultur, Sensibilität. Damit massvolles Spiel nicht leer ist, muss ihm Ehrlichkeit beistehen. Ehrlich­keit aber ist die Durchlässigkeit für das Wahre, das hinter der Kunst liegt und durch jede ihrer Ritzen quillt. So bringen die grossen Theaterabende eine Begegnung mit dem Wunderbaren, das gleichzeitig erschrickt, aufwühlt und durcheinanderbringt.

 

Das kann man erfahren, während die Truppe der Comédie-Française "Was ihr wollt" zur Aufführung bringt. Doch nach zwei Stunden wird ihr Spiel von einer weiteren Qualität überragt: Es ist die Qualität des Stücks, und damit die Qualität des Zusammenspiels von Vorlage (William Shakespeare), Übersetzung (Olivier Cadiot), Dramaturgie (Elisa Leroy, Christian Longchamp) und Regie (Thomas Ostermeier). - Bei jedem Stück geht es um Inhalte. Und diese Inhalte sind entweder stark oder schwach. Bei Shakespeare sind sie stark. Denn der Kerl konfrontiert das Faktische mit dem Seinsollenden. Und Gefühle vermischt er mit Werten. Das gibt seiner Darstellung Nachhall.

 

Für diesen Nachhall muss man ein Ohr haben. Als Zuschauer natürlich. Sonst geht die Geschichte an einem vorbei, und man bleibt unberührt. Noch wichtiger aber ist das Ohr für den Regisseur. Er muss merken, welche Klänge die Partitur ermöglicht. Und er muss sie herausholen. (Es gibt auch welche, die bringen sie hinein; man hört dann weniger Shakespeare als sie, obwohl in der Regel Shakespeare der Grössere ist.)

 

Thomas Ostermeier bringt dieses Ohr mit. Darum erfährt der Zuschauer das Stück nicht bloss als Ablauf, sondern als Steigerung, die beim Zusammenkommen der Paare am Schluss einen nie gesehenen Höhepunkt erreicht. Die Liebe quirlt die Menschen ein letztes Mal durcheinander. In traumhafter Benommenheit geben sie sich einander hin, erfahren aber auch, allein gelassen, das Unglück der Vereinzelung, und mit dem Blick auf Malvolio, den Verstossenen, der erdrosselt am Strick hängt, schliesst die Aufführung. Jemand zahlt immer die Zeche. Die selbtstbezogenen Oberflächlichen aber verfolgen ihr Glück, indem sie gleichgültig bleiben und wegschauen. Die Insze­nierung beleuchtet diesen Aspekt und verknüpft damit das alte Stück unaufdringlich mit Elend und Politik der Gegenwart. Der Gehängte der Schlussszene und der abgehauene Arm vom Anfang jedoch reichen sich über die dreistündige Aufführung hinweg die Hand. So ist die Inszenierung durchlässig für die Kraft des Guten wie des Bösen. "Das Ergebnis ist grossartig, gewiss eine der besten Arbeiten Ostermeiers", konstatiert die "Süddeutsche Zeitung".

Die Menschen sind alle geschlagen ... 

... von der Liebe, vom Neid, von der Bosheit ... 

... vom Laster und von der Furcht. 

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