Malerisch steigt der Rauch aus Joints und Zigaretten ... © Joel Schweizer.

 

 

 

The Roommate. Jen Silverman.

Schauspiel.                  

Anne-Sophie Mahler, Sophie Krayer, Margrit Sengebusch, Claude Rast. Theater Orchester Biel Solothurn.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 20. September 2018.

 

 

Es gibt in der ganzen Theaterliteratur bloss ein gutes Zweipersonenstück. Aber das funktioniert nur, wenn ihm pro Vorstellung ein einziger Zuschauer beiwohnt. Darum wird es nie gegeben. Den berückenden Einakter hat Anton Tschechow geschrieben. Schon der Titel ist schön und mehrdeutig: "Schwanengesang". Ein alter Schauspieler erwacht nachts aus dem Suff im leeren Theater. Das Haus ist abgeriegelt. Man hat ihn nach seiner Abschiedsvorstellung in der Garderobe vergessen. Alle dachten, er sei schon nach Hause gegangen. Aber nun erscheint er auf der Bühne, schwach erhellt von einem Notlicht (heute: Exit-Schild). Mit seinen Rufen weckt er eine zweite Gestalt: den Souffleur. Weil er zu arm ist, um sich ein Zimmer zu leisten, übernachtet er seit Jahren im Souffleurkasten. Nun nehmen die beiden alle grossen Szenen aus der Karriere des Alten durch, um sich die Zeit bis zum Morgen zu vertreiben. So steigt in nie geahnter Vollendung Theater im Theater auf. Genial.

 

Dass es jedoch – ausser Tschechows "Schwanengesang" – keine guten Zweipersonenstücke gibt, liegt darin begründet, dass die Konstellation nur zwei Handlungsmöglichkeiten zulässt. Ein Schauspieler spricht entweder zu einem Vertrauten oder zu einem Fremden. Ist es ein Vertrauter, dann wird "das Eis aufg'hackt vor dem Magazin der Erinnerung, die G'wölbtür der Vorzeit wieder aufg'sperrt", und dann kommt – wie im "Schwanengesang" - die Freude hoch: "Oh! ich war auch einmal ein verfluchter Kerl! Ein Teuxelsmensch" (Nestroy).

 

Spielt der zweite Schauspieler hingegen einen Fremden, bringt er durch seinen Eintritt eine etablierte Situation ins Rutschen. Und daraus entsteht Dynamik. Hoffnungsflämmchen züngeln auf. Doch wenn der Fremde am Ende geht, hinterlässt er nichts als die Asche verbrannter Freuden. Jen Silverman hat sich für diese Variante entschieden und sie als Bauplan für "The Roommate" genommen.

 

Damit ist das Zweipersonenstück (jedes Zweipersonenstück!) so banal wie eine Zweizimmerwohnung. Aber man kann versuchen, mit Hilfe von Dekorateur und Innenarchitekt etwas aus der Situation zu machen. Zunächst einmal sagt Jen Silverman: "Schräge Winkel!" Man soll nicht das Ganze auf einmal überschauen können. Man soll den Eindruck haben, dass hinter den Ecken etwas lauere. Mit dieser Technik hat sich Harold Pinter 2005 den Nobelpreis erschrieben. Jen Silverman macht sie sich zunutze.

 

Daneben braucht es Einsprengsel, die vom einfachen Grundriss ablenken: Einen kleinen David aus Plastik, ein paar Monroe-Poster, einen fauchenden Plüschpanther. So wird im "Roommate" die Handlung mit leicht verfremdeten Wirklichkeitszitaten aufgehübscht: Internet-Dating, Genderkonfusionen, vegane versus herkömmliche Küche, eine Oma – wenn der Sohn nicht schwul wäre; also sagen wir lieber: eine geschiedene, alleinstehende Frau im Oma-Alter, die das Kiffen entdeckt, und in der Rolle der Fremden eine alleinstehende Lesbe mit erwachsener Tochter und kleinkrimi­neller Vergangenheit.

 

Aus diesen Zutaten macht Jen Silverman ein Hacktätschli (sie würde sagen: einen Burger), bei dem man anfangs meint: Es ist echtes, gewachsenes Fleisch! Dass diese Täuschung zustande­kommt, verdankt das Stück den Spitzenköchinnen von Biel-Solothurn. Sie haben dem "Roommate" jene Sorgfalt angedeihen lassen, mit der mich in der Ära Gauer der "Schweizerhof" einmal bedient hat: "Wir haben zwar Cervelat-Salat nicht auf der Karte, und wir müssen auch die Würste zuerst im Bahnhof-Aperto kaufen, doch dann machen wir ihnen gern einen Salat, der dem Ruf unserer Küche entspricht."

 

Diese kulinarische Ethik prägt jetzt die deutschsprachige Erstaufführung von Silvermans Boulevardstück an Theater Orchester Biel Solothurn. Man merkt das - wie immer bei Spitzengastronomie - an jedem Detail. Die Pausen: Gerade so bemessen, dass sie die Spannung wachrufen, dehnen und halten, bis ein neues Element wieder die Handlung voranbringt. Die Requisiten: So eingesetzt, dass sie zu polyfunktionalen Mitspielern werden. Und wieder stimmt jedes Detail. Im schrägen Licht von Claude Rast steigt der Rauch aus Töpfen, Joints und Zigaretten so malerisch auf, dass er mehr schafft als Atmosphäre: nämlich Nebenhandlung, die die Augentäuschung geheimnisvoller Geladenheit unterstützt (Bühnenbild und Kostüme: Sophie Krayer).

 

Und schliesslich das Geheimnis der Probenarbeit (Regie: Anne-Sophie Mahler, Dramaturgie: Margrit Sengebusch). Wie ist es gekommen, dass Barbara Grimm so gelöst, so stimmig und fein abgestuft spielt wie noch nie? Anderthalb Stunden steht sie auf der Bühne, und kein einziges Mal tappt sie ins Unglaub­hafte oder bloss Behauptete. Ihrer makellosen Darstellung wegen lohnte es sich schon, den "Roommate" zu besuchen. - Und da ist noch der Roommate selbst: Claudia Burckhardt. Man kann sich die Figur nicht anders denken als so, wie sie ist. Sie bringt Energie, Frische und Dynamik in eine abgestandene Welt. Bei aller Undurchdringlichkeit giesst sie im Lauf der Vorstellung Lebensmut in jedes Zuschauerherz und bestätigt damit Nestroys Sinnspruch: "Die schlimmste Nation ist die Resignation."

 

Theater als Lebenshilfe: Aus einem schwachen Stück zieht das Schauspiel von Biel-Solothurn ein Maximum an Kraft und Substanz. So viel vermag Kunst - wenn die rechten Frauen zusammenkommen.

 

Theater als Lebenshilfe - wenn die rechten Frauen zusammenkommen. 

 
 
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