"Man hat halt so oft eine Sehnsucht in sich ..." © Konstantin Nazlamov.

 

La Cenerentola. Gioacchino Rossini.

Oper.                  

Franco Trinca, Andrea Bernard, Alberto Beltrame, Elena Beccaro, Mario Bösemann. Theater Orchester Biel Solothurn.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 15. September 2018.

 

 

Der Mann ist vor einem Vierteljahrhundert nach Biel gekommen. Da ist er heute zuständig fürs italienische Fach. Und noch nie hat Franco Trinca eine Oper so angefangen. Die langsame Einleitung wird alptraumhaft langsam genommen. Man denkt zuerst an die historische Schule mit ihren grellen Kontrasten. Doch nein, zeitgeistige Konventionalität ist es nicht. Im Eingangstakt Maestoso piano pianissimo, gespielt von Fagott, Celli und Kontrabässen, spricht sich der depressive Sog nachtschwarzer Trauer aus. Die Interpretation realisiert damit die ernste Seite des Melodramma giocoso. Ein Zuwachs an Dimension. Den ersten anderthalb Takten antwortet, forte fortissimo, ein energisches vierstimmiges Tutti. Die rhythmischen Akzente der Bläser sind präzise bemessen, trocken und federnd. Mit ihrem beharrlichen Schlag treiben sie immer wieder Rossinis berühmte Crescendo­walze hervor.

 

So verflechten sich in der "Cenerentola" von Biel-Solothurn die musikalische und szenische Interpretation zu einem klugen, facettenreichen Geschehen, das seine Zuhörer gleichzeitig entzückt und entrückt. Das Programmheft-Interview verrät das Geheimnis des Erfolgs: Die Beteiligten haben miteinander gesprochen. Sie ziehen am selben Strick - im Unterschied zu den grossen Opernhäusern, wo die Stars erst zu den Endproben anfliegen. Der 31jährige italienische Regisseur Andrea Bernard erklärt gleich eingangs: "Es ist wichtig für mich, in einem Team zu arbeiten. Meinungen, Ideen, Vorschläge sind ganz wesentlich. Ein Konzept macht nur Sinn, wenn alle Beteiligten einer Opernproduktion genau dasselbe Ziel erreichen wollen. Und so erreicht man eine klare und direkte Aussage. Ich schätze meine Kollegen sehr, bin mit ihnen befreundet, und wir verstehen einander sehr gut. Wir tauschen unsere Ideen aus, und dann gibt es diesen Moment, wo auf einmal alles ganz natürlich zusammenkommt. Das ist die Magie des Theaters." Mit dieser Auffassung hat Bernard 2016 den europäischen Opernregie-Preis gewonnen. Damals ging es um die "Traviata", eine ernste Oper. Mit der buffonesken "Cenerentola" hätte er ihn ein zweites Mal verdient.

 

Gioacchino Rossini und sein Librettist Jacopo Ferretti haben das Märchen vom Aschenputtel mit kaustischem Witz und professioneller Abgebrühtheit für die Oper adaptiert: "Es wird kein Jahr vergehen, bis man die 'Cenerentola' von Lilibeo bis Dora singen wird, und in zwei Jahren wird man sie in Frankreich gern haben und in England wunderbar finden. Die Impresarios werden um sie kämpfen, und noch mehr die Prime donne." Das Team von Andrea Bernard, Alberto Beltrame (Bühne), Elena Beccaro (Kostüme), Mario Bösemann (Licht) fasst die Oper auf als Traum einer kleinen Wäscherin, die sich an die Hoffnung klammert, dass die guten und reinen Herzen am Ende ihre Belohnung finden werden: Ein Prinz wird kommen. Er wird Reichtum und Schönheit verachten und sich für Unschuld und Güte entscheiden: "alla fin scelse per sé / L'innocenza e la bontà." Unter diesem Blickwinkel bringt die Oper das Seelenleben eines schlichten, geraden Wesens zur Anschauung. Und wie das Volksstück von "Kasimir und Karoline" unterlegt die Aufführung das ganze Geschehen mit dem Grundakkord: "Man hat halt so oft eine Sehnsucht in sich ..."

 

Die Sehnsucht treibt Blüten, Bilder, Träume hervor, genau so, wie es Sigmund Freud im Jahr 1908 beschrieben hat: "Man darf sagen, der Glückliche phantasiert nie, nur der Unbefriedigte. Unbefriedigte Wünsche sind die Triebkräfte der Phantasien, und jede einzelne Phantasie ist eine Wunscherfüllung, eine Korrektur der unbefriedigenden Wirklichkeit. Die treibenden Wünsche sind verschieden je nach Geschlecht, Charakter und Lebensverhältnissen der phantasierenden Persönlichkeit; sie lassen sich aber ohne Zwang nach zwei Hauptrichtungen gruppieren. Es sind entweder ehrgeizige Wünsche, welche der Erhöhung der Persönlichkeit dienen, oder erotische. Beim jungen Weibe herrschen die erotischen Wünsche fast ausschliessend, denn sein Ehrgeiz wird in der Regel vom Liebesstreben aufgezehrt; beim jungen Manne sind neben den erotischen die eigensüchtigen und ehrgeizigen Wünsche vordringlich genug."

 

Der Waschsalon, in dem Cenerentola arbeitet, trägt mit herrlicher Ironie den Namen "Il Magnifico". Und Wunderbares beginnt sich auch bald hinter der Scheibe der Wäschetrommel zu gestalten. Ein Gesicht erscheint. Eine Hand drückt die Tür auf, und ein Wesen aus dem Jenseits steigt aus der Trommel: Der Erträumte, der Fleisch und Blut angenommen hat und Cenerentola auf den Thron führen wird, bevor es Abend wird (pria di notte).

 

Da vermischen sich schon, wie im Wunderland, die verschiedenen Ebenen. Hinter der Wand des Waschsalons beginnt gleich das Königreich. Ein weisses Tuch, das von der Trommel hochgerührt wird, ersetzt den ganzen Sturm ("Temporale" am Ende von II,6). Und wenn die Höflinge aus der Trommel steigen, kleben einzelne Schaumfetzen an ihren Kleidern und Haaren. Sie illustrieren das geflügelte Wort: "Träume sind Schäume", und zeigen, dass das Regieteam neben den Farben des Rührenden, des Packenden, des Erschütternden, des Überraschenden auch die Farben des augenzwinkernden und des abgründigen Humors im Malkasten hat. Und gleichzeitig entfaltet das Gemälde die Grosszügigkeit von Cenerentolas Seele. Das Animalische hat da Platz, ohne zu verängstigen (es zeigen sich verschiedene Tiermasken), das sexuell Übergängliche (ein Transvestit), die gleichgeschlecht­liche Liebe (zärtliche Berührungen des Liebespaars Alidoro-Dandini) - - wie wenn sich in Cenerentolas schlichtem Gemüt das Jesuswort ausgestalten würde: "In meines Vaters Haus sind viele Wohnungen ..."

 

Wirklichkeit, Wunsch und Traum spielen in dieser Aufführung auf vielgestaltige Weise ineinander, und dabei wird Cenerentola zeitweise verdoppelt und verdreifacht. Verdreifacht, um die Hast bildhaft zu machen, zu der sie mit unerbittlichen Rufen angetrieben wird: "Cenerentola vien qua, / Cenerentola va là, / Cenerentola va su, / Cenerentola vien giù ..." Verdoppelt wird Cenerentola, wenn die Seele sich selbst in den Raum stellt und sich ein glückliches Schicksal erdichtet. Als die junge Frau dem Prinzen das Jawort gibt, erscheint sie - kegelförmig wie ein Zuckerstock - vom Scheitel bis zu den Zehen in ein weisses Brautkleid eingehüllt. Die Hochzeitsszene auf den Brettern holt damit die Telenovela ein, die am Anfang der Aufführung Cenerentolas Blick an die Mattscheibe fesselte. Und jetzt wächst das kleine, herumgeschubste Wesen zu majestätischer Grösse aus ("Erhöhung der Persönlichkeit"), um zu den allerletzten Takten der Partitur mit einem genialen Dreh in der Wirklichkeit zu landen. Für diese Wendung allein hätte das Regieteam schon den Nestroy-, den Ibsen- und den Molièrepreis verdient, wenn denn die Jurys überhaupt den Weg nach Biel-Solothurn fänden.

 

Man reibt sich die Augen, wie sehr sich die Oper am Jurasüdfuss seit ihrer letzten "Cenerentola"-Premiere vom 27. Oktober 1989 gesteigert hat. Das Orchester: Sans faille, klangschön und rhythmisch präzis. Der Chor: Spielfreudig und musikalisch zuverlässig. Und dann die Solisten! Alle mit feindosiertem, klugem Körperspiel. Und alle in der Rolle drin. Schon der Auftritt der bösen Schwestern, Tisbe und Clorinda (Juliette de Banes Gardonne und Jeanne Dumat): Für ihr blödes Getue ("Niemand kann besser tanzen als ich!") findet die Regie eine überzeugende Umsetzung. Die Schwestern bewegen nicht stumpfinnig illustrativ die Beine, sondern posieren selbstverliebt für eine Polaroidkamera. Ihr Vater, Michele Govi, chargiert darstellerisch zwar etwas, verdient aber uneingeschränkten Beifall für seinen runden Bassbariton und für seine Zungenfertigkeit. Wolfgang Resch als Dandini: Sehr sauber geführte Stimme; und in der Figurengestaltung angenehm schnöselig. Ein kluger Kontrast zu seinem Liebhaber, dem geraden und gerade singenden Alidoro (Lisandro Abadie). Als Don Ramiro: Gustavo Quaresma. Körperlich und gesanglich agil; er überzeugt in der Rolle des Kammerdieners, und er überzeugt in der Rolle des Prinzen. Schliesslich die Hauptfigur, Inès Berlet als Cenerentola. Als Figur wächst sie imponierend vom Aschenputtel zur Königin empor, und als Sängerin triumphiert sie mit virtuoser Belcantotechnik. Fürwahr: Man wird weit suchen müssen, um eine gescheitere, sensiblere und menschlich anrührendere "Cenerentola" zu finden. Wien und Paris können nicht mithalten. Die Musik spielt diesmal in Biel und Solothurn.

 

Hinter der Wand des Waschsalons beginnt gleich das Königreich.

Die bösen Schwestern machen sich an den Kammerdiener statt an den Prinzen.

Wunderbares beginnt sich hinter der Scheibe zu gestalten. 

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