Victor oder Die Kinder an der Macht. Roger Vitrac.
Schauspiel.
Katharina Rupp, Florian Barth. Theater Orchester Biel Solothurn.
Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 2. September 2018.
Als Hörspiel ist das Stück umwerfend. (Radio France besitzt in seinem Archiv eine Meisteraufnahme aus den 50er Jahren.) Die Figuren der Groteske werden durch scharf gemeisselte Sätze hervorgeklopft, und jeder Satz bringt eine neue Facette: Das Begehren, die Angst, die enge Vorstellungswelt, die platte Konventionalität, das hohle Auftrumpfen, die winselnde Unterwürfigkeit. Die Schauspieler brauchen bloss den richtigen Ton zu treffen, und schon beginnt die Farce spielen – und zwar mit den Zuhörern. Der Höllenritt führt von Komik über Verwunderung zu Entsetzen. Zurück bleibt die verstörende Erfahrung, dem bodenlosen surrealistischen Chaos ausgeliefert worden zu sein. Die Grenze zwischen Vernunft und Wahnsinn ist ins Schwimmen geraten und weggespült worden.
Dass sich die Schärfe des Stücks im Hörspiel ungehindert vernehmbar machen kann, liegt daran, dass sich der Sprache keine Materie entgegenstellt: Kein Raum mit Tapeten, Türen und Möbeln, und keine Schauspielerkörper mit ihrem Eigengewicht und Ausdruck. Das Material nämlich steht jeder schwerelosen Umsetzung einer Partitur im Weg. Darum erfand Richard Wagner das unsichtbare Orchester. Die hervortretenden Augen in den roten Bläserköpfen und die langen Finger der Streicher mit ihrem unanständigen Bekrabbeln der Cellosaiten waren ihm zuwider.
Mit dem Hindernis der Materialität war nun auch Katharina Rupps Inszenierung konfrontiert. Die "Trägheit der Materie", diese der Kunst "entgegengesetzteste aller Eigenschaften" (Kleist), stand der ungehinderten Entfaltung von Roger Vitracs "Victor oder Die Kinder an der Macht" im Weg. Das Stück ist da heikler als andere. Die Regisseurin erkannte die Gefahr und arbeitete ihr mit ihrer ganzen Erfahrung entgegen. Sie sorgte für Geschwindigkeits- und Stimmungswechsel. Sie achtete auf Leichtigkeit und liess die Handlung mit boulevardeskem Schwung vortragen.
Das Tempo indes war an der Premiere stellenweise zu scharf. Die Darsteller konzentrierten sich auf ihre Einsätze und lieferten immer wieder verhaspelte Dialogstellen ab. Das wird sich im Lauf der weiteren Aufführungen wahrscheinlich zum Guten wenden. An der Premiere jedoch litten Ausdruck und Verständlichkeit bei allen Kräften ausser beim singulären Jörg Seyer. Schon letztes Jahr bot er im "Heiligen Experiment" und in "Christmas Carol" sprecherisch und darstellerisch unanfechtbare Leistungen. Und jetzt wieder als Vater, Ehemann, Lügner, Ehebrecher, Angeber und Würstchen.
Das Abheben in die (alp-)traumhafte Schwerelosigkeit gelang der Aufführung jeweils am Aktschluss. Am Ende des ersten Teils und am Ende des Stück verliess sie dank Florian Barths Video-Einspielungen das Gravitationsfeld der Bretter. Impressionistisch hingetupft flirrten die Figuren über Wände und Gegenstände wie in den surrealistischen Bildern von Marc Chagall. Da kam die Inszenierung dem geforderten Stil am nächsten. Und auch, nicht verwunderlich, beim Einsatz eines batteriebetriebenen Spielzeughasen. In ihm realisierte sich die Idee eines ubuesken "ballet mécanique", die Vitrac und seine Generation faszinierte.
Das Stück kam am 24. Dezember 1928 zum ersten Mal auf die Bühne. Die Handlung aber spielt am 12. September 1909 von 20 Uhr bis Mitternacht in der Wohnung der Familie Paumelle. Schon zur Uraufführung waren die Verhältnisse durch die Erfahrung des Ersten Weltkriegs in die Ferne gerückt worden. So erlaubte es die Abgelegenheit der Belle Epoque, die Figuren vom Realismus wegzuziehen und auf die Karikatur hin zuzuspitzen. In der Begegnung mit dem Blödsinn der bürgerlichen Verhältnisse konnte man ins Nachdenken kommen über sich und seine Gesellschaft, wie es Heimito von Doderer in seinem Tagebuch vornahm: "Die Abstiegsmöglichkeiten des heutigen Menschen sind noch gar nicht ermessen. Es ist nicht zu glauben, bis zu welchem Grade von Zerfahrenheit, sprachlicher Elendigkeit und Banalität eine kleine Gesellschaft von relativ sehr intelligenten Menschen herabzusinken vermag, wenn man sie dabei ungestört lässt. Ein hervorragender Fachwissenschaftler braucht sich nur einmal herumzudrehen – und er kehrt uns nichts mehr zu als Opportunismus und plattes Geblödel. Die dritte Dimension fehlt, wie bei einer ausgeschnittenen Papierpuppe oder einer Figur aus den sogenannten 'Mandelbögen'."
Katharina Rupp entschärft die korrosive Kraft der Farce durch humanistische Milde. Sie verlegt die Handlung in die frühen 60er Jahre und bringt uns dadurch die Figuren im Aussehen und Gehaben näher. An die Stelle bourgeoiser Selbstgerechtigkeit tritt jetzt bemitleidenswerte Hilflosigkeit. Mit ihrem Realismus aber rundet die Inszenierung die Kanten der Groteske dermassen ab, dass sie unsere Haut nicht mehr aufritzen, geschweige denn verletzen kann.
Am deutlichsten tritt das zutage, wenn man den Victor des Theaterplakats neben den Victor der Theateraufführung hält. Der Grafiker Stephan Bundi bringt mit schwarzen, gelben und weissen Flächen (die der Flächigkeit von Vitracs Dramaturgie entsprechen) die gnomshafte Unheimlichkeit eines frühreifen Kindes heraus. Hinter Victor erscheint damit der jugendliche Doktor Faust, wie ihn das Volksbuch im Erstdruck von 1587 charakterisiert: "Als Doktor Faustus eines ganz gelernigen und geschwinden Kopfs zum Studieren qualifiziert und geneigt ward / ist er hernach in seinem Examine bei den Rectoribus so weit gekommen, dass man ihn im Magistrat examiniert und neben ihm auch sechzehn Magistros. Denen ist er in Frag / Verhör / und Geschicklichkeit allen obgelegen."
Im Stück bewahrheitet sich aber auch, wie das Volksbuch schreibt, das "wahre Sprichwort: Was zum Teufel will / lässt sich nicht aufhalten". Das Böse tritt jetzt aus der Deckung und bringt an Victors neuntem Geburtstag die Welt der Erwachsenen durcheinander bis zu Mord und Tod. "Es bleibt offen, wo in dieser Groteske die Grenze zwischen Wirklichkeit und Wahnsinn zu ziehen ist, denn eine Orientierungsmöglichkeit, die eine Unterscheidung der Bereiche des Normalen und Abnormen zuliesse, wird von Vitrac nicht gegeben. Dieser durchgängigen Ungewissheit verdankt das Stück seine äusserst bedrückende Atmosphäre, in der der Jux ständig in den Alptraum und das Lachen ins Entsetzen umschlagen." (Werner Dierlamm)
Dem gegenüber zeichnet Tom Kramer in Biel-Solothurn einen eher weichen, eher sympathischen Krauskopf, dem man das Durchgeknallte nicht recht abnimmt, und das Böse schon gar nicht. Glaubhafter ist sein Leiden (auch dank der weissen Schminke). Im zweiten Teil bekommt er Bauchweh, und am Ende stirbt er daran. Die Inszenierung legt Victors Schicksal als "Drama des begabten Kindes" aus. Das macht die Darstellung zwar humaner und zeitgemässer, verrät aber die a-psychologische Gnadenlosigkeit der abgründigen Farce.
Victor: Ein eher sympathischer ...
... aber auch weicher Krauskopf ...
... in realistischem Dekor. © Joel Schweizer.