Der Leib schweigt. An der Spaltung leiden sie beide. © Annette Boutellier.

 

 

 

Coco. Markus Schönholzer, Alexander Seibt.

Musical.                  

Stefan Huber. Konzert Theater Bern.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 23. April 2018.

 

 

Coco ist der arme Bruder von Loris. Der eine kommt in Wien bei Betrachtung von sich und seiner Generation zum Schluss:

 

"Also spielen wir Theater,

Spielen unsre eignen Stücke,

Frühgereift und zart und traurig,

Die Komödie unsrer Seele,

Unsres Fühlens Heut und Gestern,

Böser Dinge hübsche Formel,

Glatte Worte, bunte Bilder,

Halbes, heimliches Empfinden,

Agonien, Episoden ..."

 

Und in Bern gesteht der andere – hundert Jahre später – bei Betrachtung seines Körpers: "Jedes Mal, wenn ich in den Spiegel schau, hoffe ich insgeheim, dass er nicht mehr da ist. Denn das ist nicht mein Körper. Wenn schon: ANTIKÖRPER. Und die Krankheit, die er bekämpft, bin ich."

 

Der Wiener hat viele Themen: "Dichtkunst"; "Erkenntnis"; "Vor­frühling"; "Gute Stunde"; "Der Jüngling in der Landschaft". Der Berner dagegen hat nur ein Thema: "Mein Körper ist ein Gefängnis, jemand hat die Tür abgeschlossen und den Schlüssel weggeworfen. – Stimmt so natürlich nicht. Weil: Ist schlimmer. Da ist nämlich gar keine Tür. Ich sitz hier drin fest. Für immer. Ohne Ausgang."

 

Als die Gedichte des Wieners erschienen, fragten die Kenner: "Wer ist 'Loris', wer dieser Unbekannte? - Ein alter Mann, gewiss, der in Jahren und Jahren seine Erkenntnisse schweigsam gekeltert hat und in geheimnisvoller Klausur die sublimsten Essenzen der Sprache zu einer fast wollüstigen Magie kulti­viert." (Stefan Zweig)

 

Beim Berner hingegen vermuten die Nahestehenden Pubertäts­probleme: "Launisch bist du, und unsicher und empfindlich. Und du lässt dir die Haare wachsen. – Aber bist du jetzt eine Frau? Oder einfach nur ein Teenager in der Scheissphase?", fragt der Vater.

 

Der Wiener kennt verschiedene Ebenen:

 

"Manche liegen immer mit schweren Gliedern

Bei den Wurzeln des verworrenen Lebens,

Andern sind die Stühle gerichtet

Bei den Sibyllen, den Königinnen,

Und da sitzen sie wie zu Hause,

Leichten Hauptes und leichter Hände."

 

Der Berner verzweifelt an seinen Ketten: "Oh, wenn du wüsstest! – Zu kämpfen für etwas, das allen anderen selbstverständlich ist. Wenn du wüsstest, was das heisst. Dass du kein Spiegelbild hast. Keinen eigenen Schatten. Wenn du wüsstest. Niemals sein. Niemals werden, was du bist!" Der Berner kommt und kommt nicht weg. Auch die operative Geschlechtsumwandlung bringt keine Befreiung; erst der Tod:

 

"DER KÖRPER ENTSCHWIND'T

DIE HÜLLE ENTFLOGEN

WEG IST DAS KLEID, DAS ICH NOCH TRUG

ICH SINGE EIN LIED

ICH GEHE NUN LEISE

ICH SINGE VOM RAUSCH

ICH SING VON DER FREUDE

EIN WINZIGER TEIL EINES GANZEN ZU SEIN"

 

Und nun bringt also Konzert Theater Bern unter dem Titel "Coco" die Leiden von Loris' armem Bruder als Musical, als erstes Transgendermusical, und zeitgeistiger, denkt man, könnte sich das Kulturinstitut nicht gebärden. Aber oha. Da ist ein Ernst bei der Sache, und ein Ethos, und eine Nachdenklichkeit, die betroffen machen, verstehst du, und damit wird Cocos Problem, mit dem er/sie sich im statistischen Promillebereich bewegt, zur Sache jedes einzelnen, der da im Finstern sitzt und zuschaut und mit wachsender Beklemmung spürt, dass das Thema ihn in der einen oder andern Form selber angeht, sei es als Individuum, sei es als Partner, sei es als Freund, als Pflegeperson, als Elternteil oder als betrachtender Aussen­stehender. Immer wieder macht das Musical klar: tua res agitur, "ganz wie das Gesicht im Spiegel, das täglich euch entgegenblickt: Verlässlich? Ja. Und treu, gewiss. Doch heisst das: Wahr? Oder ist's ein Trugbild nur, das Blendwerk einer launischen Natur, die alles so gefügt, dass jedes Innere auch ein Äusseres hat – und dass das Eine dem Anderen stets verschieden? – Denn wer könnte wirklich sagen: Ich bin der, mit dem du sprichst? Ich bin die, mit der du lebst? Nein, das Gesehene ist stets ein anderes als das Verborgene ..."

 

In diesen Epilogzeilen zeigt sich, dass der Verfasser des Buchs, Alexander Seibt, nicht nur ein begnadeter Musical­schreiber ist, sondern auch ein wahrhafter Gestalter der Rede. Er verfügt über eine stilistische Breite, die Cocos Leidensweg in verschiedenen Sprachfacetten reflektiert, von den barocken Donnerworten über die Nachdenklichkeitsmonologe der Shakespearschen und Weimarer Klassik bis zur Slang unserer Zeit: "Transgenderbabe". "Freak". - Gleichzeitig fächert Seibt Cocos Problem durch die Reaktion der Nahestehenden dergestalt auf, dass der einfache, und leider auch zwingende Verlauf der Handlung im Betrachter eine Vielzahl von Gedanken und Gefühlen freisetzt. Auf diese Weise überzeugt der Abend gleichermassen durch Reichtum und Klarheit.

 

Für "Songs & Lyrics" zeichnet Markus Schönholzer. Der Web­master der "Stimme" ist davon höchlich angetan. Nach dem Besuch der Deuxieme bekennt er, "dass mir das Stück ausnehmend gefällt", und lobt: "ein zeitgeistiges Thema, ein fetziges und gleichzeitig sehr emotionales Musical im alten Stil mit vielen schmelzenden Blue notes". Ja, die Musik ist ungemein kantabel und übertrifft streckenweise Andrew Lloyd Webber. Aber da ist noch mehr zu sagen: Indem die "Songs & Lyrics" von Markus Schönholzer die unerhörte Begebenheit von Cocos Schicksal und den poetischen Anspruch des Texts durch akustische Verführung in die Sphäre des Gängigen einbetten, bewirken sie, dass die Handlung für Herrn und Frau Jedermann eingängig und nachvoll­ziehbar wird.

 

Nun könnte das erste Transgendermusical nicht so überzeugend ausfallen, wenn nicht sein dramaturgisches Fundament so belastbar wäre. Dem Stück liegt nämlich der Einfall zugrunde, Coco in Leib und Seele zu spalten. Die Seele spricht, der Leib schweigt. An der Spaltung leiden sie beide. Aber es wäre etwas anderes, um nicht zu sagen: wahrhaft Queres, wenn ein männlicher Darsteller über seine weibliche Identität sprechen würde. Dann wären die Durchschnittszuschauer, zu denen auch der Kritiker der "Stimme" zählt, befremdet und kämen ins Grübeln: "Wie kann man nur... Ist das nötig?... Eigentlich unzumutbar!"

 

Jetzt aber ist Cocos Seele der Unzumutbarkeit ausgesetzt, nicht das Publikum, und dadurch, dass Cocos Seele durch eine Schauspielerin verkör­pert wird, provozieren ihre Wünsche kein Wenn und Aber mehr, sondern erreichen als Ausdruck einer inneren Lage unmittelbar das Innere der Theaterbesucher.

 

Die Regie von Stefan Huber bringt nicht zuviel und gerade genug, und durch ihre Vornehmheit bannt sie die Gefahr, Coco zur Boulevardsensation zu degradieren. Das Zusammenspiel von Mariananda Schempp und Gabriel Schneider ist den ganzen Abend getragen von hoher Intensität. Nicht allein die Figur, auch der Zuschauer ist gespalten, und in einer Mischung von Mitleid und Schrecken erfährt er einen Gang durch die Ausweglosigkeit, aus der ihn auch der fallende Vorhang nicht befreit. So wirkt das Musical über die Vorstellung hinaus und bringt eine Bereicherung des Problembewusstseins, durch die "Coco" für jeden einzelnen zum Erlebnis wird, das sich in seine Geschichte einschreibt.

 

Auf diese Weise erfüllt "Coco" in Bern die hohen Anforderungen von José Ortega y Gasset, der statuierte: "Der Autor kommt von Auctor: der, welcher vermehrt. So nannten die Lateiner den Feldherrn, der dem Vaterland neue Provinzen erobert hatte."

Die Regie von Stefan Huber bringt nicht zuviel und gerade genug. 

"Nein, das Gesehene ist stets ein anderes als das Verborgene ..."

Cocos Schicksal durch akustische Verführung ins Gängige einbetten. 

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