Erlösung in Verbindung mit dem Tod. © Tanja Dorendorf.

 

 

 

Carmen. Georges Bizet.

Oper.                  

Mario Venzago, Stephan Märki, Philipp Fürhofer. Konzert Theater Bern.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 11. April 2018.

 

 

Als vor zwanzig Jahren ein Liebling des internationalen Feuilletons der Presse seinen Opernspielplan vorstellte, wurde er gefragt, was für ein Konzept dahinter sei. Da antwortete er mit wohlberechneter Chutzpe: "Die leidende Frau." Es gab eine Überraschungssekunde, dann wusste er: "Jetzt habe ich sie alle im Sack. Die Zeitgeistigen, die Feministinnen und die Journaille." Ja, sie waren, wie die Wiener sagen, auf einen Schmäh hereingefallen; denn es gibt für die ganze Opernliteratur kein banaleres Motto als "die leidende Frau". "Die verkaufte Braut", "Die Walküre", "La Traviata", "Tosca", "Jenufa", "Lulu" und alle, alle andern handeln von nichts anderem oder lassen sich zumindest daraufhin inszenieren. So auch "Carmen". Und als leidende Frau führt sie Stephan Märkis Regie von Anfang an vor.

 

Claude Eichenberger steht während des Vorspiels zum 1. Akt im rot glühenden Carmen-Kostüm nachdenklich, verloren und verletzt vor einer Spiegelfläche, die den ganzen Raum des Berner Stadttheaters mit seinen drei vollbesetzten Rängen zurückwirft, und die Spielanlage zeigt: Es geht hier um die Reflexion der Frauenfigur in der Oper. Da steht einerseits die Rollenträgerin, und dahinter steht anderseits ihr Bild, und nochmals dahinter steht das Publikum mit seinem Vorwissen, seinen Vorstellungen und Erwartungen.

 

Die Komplexität wird dadurch gesteigert, dass nach Auffassung des Regieteams das Frauenbild auch im Werk selbst gespiegelt erscheint. Carmen und Micaëla verkörpern zwei verschiedene Realisationen eines Frauenschicksals. Letztlich entscheidet nur der Zufall von Geburt, Sozialisation und Temperament, ob das Leben in die eine Richtung läuft oder in die andere. Um das zu unterstreichen, bekommt die Micaëla-Darstellerin Elissa Huber das gleiche Kostüm und die gleiche Frisur wie Carmen. Auch bei Mercédès und Frasquita wird die geheime Wesens­verwandtschaft aller Frauen durch die Ausstattung hervor­gehoben (Bühnenbild und Kostüme Philipp Fürhofer). Und da ist noch ein zierliches kleines Mädchen, das mit grossem Ernst über die Szene stakst und das Bild der Frau als delikates Püppchen zur Darstellung bringt. Schliesslich das Bild der Mutter, die in einem fernen Dorf auf dem Sterbebett liegt, bereit, in den Himmel zu fahren und von dort aus die Geschicke zu lenken: "Ma mère, je la vois ..."

 

So schwankt Don José, der kleine Unteroffizier, zwischen den Appellen der verschiedenen Frauengestalten, zu denen sich auch noch der Appell der mütterlich bergenden Kaserne beigesellt, während Carmen ihrerseits schwankt zwischen dem kleinen, unbedeutenden Wesen, das ohne sie nichts ist und nur durch sie zu etwas wird, und dem siegreichen Toreador, der sie nicht braucht, um jemand zu sein. In der Verbindung mit ihm spiegelt sich die Vorstellung der Gleichrangigkeit von Mann und Frau mit gegenseitigem, souveränem Schenken und Empfangen.

 

Aber die Regie hat neben dem Püppchen noch eine weitere Figur dazuerfunden, Joker genannt, eine dunkle Gestalt mit Totenschädel, verkörpert durch einen schwarzen Tänzer von extrem viriler Ausstrahlung. Er wäre eigentlich Carmens ideale Ergänzung im Sinn der platonischen Liebeslehre: "Jeder von uns ist ein Bruchstück eines Menschen, da wir zerschnitten sind wie die Flundern, aus einem zwei; es sucht denn auch ein jeder immerfort sein anderes Stück." Und das ist es, wonach jeder Mensch "schon längst begehrte, nämlich mit dem Geliebten vereinigt und verschmolzen und aus zweien einer zu werden". An ihn, den Tod, und nicht an Don José, richtet Carmen folgerichtig ihren Schlussgesang, als sie bekennt: "Je l'aime. / Je l'aime, et devant la mort même, / je répéterai que je l'aime." Sie, der auf Erden nicht zu helfen war, sucht Erlösung in Verbindung mit dem Tod, und mit dieser Entscheidung fallen Rot und Schwarz, Eros und Thanatos, zusammen.

 

Auf diese Weise realisiert Stephan Märki mit "Carmen" in Bern ein "essayistisches Regiekonzept". So nannte Joachim Kaiser die eigenwillige Interpretation von Werken, die einem Publikum sehr wohl bekannt sind (diese Einschränkung war ihm wichtig) – bei solchen Werken, führte Kaiser aus, könne es sich der Regisseur erlauben, das allseits bekannte sogenannte Werk (von dem wir ja alle nicht wissen, was es ist) dazu zu benützen, seine eigenen Gedanken zu transportieren, die Geschichte assoziativ weiterzudenken und damit zu einer unter Umständen völlig neuen Konfrontation von Gedanken, Figuren, Handlung­selementen zu kommen.

 

Für diese völlig neue Konfrontation von Gedanken, Figuren und Handlungselementen hat Stephan Märki auf jede herkömmliche Bebilderung der Oper verzichtet. Das führt so weit, dass Carmen für Don José nicht mehr mit Kastagnetten tanzt. Sondern ihr "la la la la la la la la la la la la"  wird jetzt von den dräuenden Schlägen einer grossen Rührtrommel begleitet. Der Dolch ist eine Spiegelscherbe. Und wenn Carmen am Schluss verachtungsvoll ruft: "Cette bague autrefois tu me l'avais donnée, / Tiens", so spricht die deutsche Übertitelung nicht von einem Ring, sondern von einem Gürtel, und Carmen macht mit leeren Händen die Gebärde des Wegwerfens.

 

Um die Positionen so schroff als möglich herauszumeisseln, für die die einzelnen Figuren stehen, wurden die Rezitative gestrichen. Das bedeutet nicht nur Wegfall aller Übergänge von einer Situation zur andern, sondern auch Wegfall der psychologischen und dramaturgischen Motivierung. Inszenatorisch und optisch führt das zur reinen Konfrontation von Positionen. Aber der Fluss der Oper ist trockengelegt, und das Leidenschaftsdrama wird zur kühlen Abfolge von Standbildern. Nur noch ein Schritt, und die Produktion landet beim vielgeschmähten Steharientheater. Dieser Gefahr arbeitet die Inszenierung durch unablässige Bewegung der Figuren, der Dekorationselemente und, natürlich, des Tänzers entgegen. Aber weil diese Bewegungen nur vom Willen zum Auflockern regiert werden und nicht vom Konzept einer erzählenden Handlungsverknüpfung, schleichen sich allen Stand- und Beleuchtungswechseln zum Trotz immer wieder Fadesse und Langeweile in den Abend ein. Georges Bizet war eben, auch wenn das Nietzsche eine Zeitlang anders sah, nicht der bessere Komponist als Richard Wagner. Bei Wagner sorgt der belebte Orchesterkommentar auch bei stehenden Bildern für einen kontinuierlichen Fluss. Bei "Carmen" jedoch bedient die Kompositionsweise bloss den ruckelnden Verlauf der Nummernoper mit ihrem starren Wechsel von gesprochenen und gesungenen Passagen. Und auch wenn man, wie in Bern, alles Gesprochene weglässt, fliesst gleichwohl nicht eine Situation in die nächste.

 

Dem trockenen Charakter der Regiekonzeption entspricht Mario Venzagos musikalische Interpretation. Das Orchester vermeidet alles, was die École française an Glanz, Subtilität und Eleganz vorzuweisen hätte, und realisiert eine sehr ernste, aber leider auch matte "Carmen". Der Wille, es anders zu machen (wohl dem Vorsatz geschuldet, das Werk zu "entstauben"), führt zu einer konsequent eigenen, um nicht zu sagen: eigensinnigen Tempogebung, über die man bei vielen Nummern diskutieren könnte. So wird der traditionelle Puls unterbunden und jeder Verlockung zum Brio widerstanden. Demzufolge ist die dynamische Bandbreite eher schmal, die Nüchternheit dominiert.

 

Dieser Auffassung entspricht Claude Eichenbergers Carmen-Interpretation. Man kann ihr und allen andern, fast allgemein beachtlichen Stimmen, den Respekt nicht versagen. Und trotzdem mischt sich immer wieder der Eindruck ein, die ganze Berner Produktion liege in Bezug aufs Werk, soweit man es kennt und liebt und schätzt, irgendwie "daneben". Essayistisch halt. - Aber vielleicht verhält es sich umgekehrt, und es ist nur der Kritiker, der daneben liegt? Das Publikum der Deuxieme jedenfalls war von der Vorstellung höchst angetan, und für den Schlussapplaus standen zwei, drei Ehepaare gesetzteren Alters sogar auf. Es ist unvermeidlich: Wer wissen will, was richtig ist, gehe hin und urteile selbst!

Es geht hier um die Reflexion der Frauenfigur in der Oper. 

"Es sucht denn auch ein jeder immerfort sein anderes Stück." 

Der siegreiche Toreador, der Carmen nicht braucht, um jemand zu sein.

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