Trotz der klingenden Namen: Das Stück trägt nicht. © Thomas Aurin.

 

 

 

Lenin. Milo Rau und Ensemble.

Schauspiel.                  

Milo Rau, Anton Lukas, Silvie Naunheim, Kevin Graber. Schaubühne Berlin.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 8. März 2018.

 

 

Egon Friedell hätte gejauchzt. In seiner "Kulturgeschichte der Neuzeit" verfocht der Wiener Kulturphilosoph die These, es sei der Geist, der die Materie beherrsche, nicht umgekehrt: "Der Zeitgedanke ist das Organisierende, das Schöpferische, das einzig Wahre in jedem Zeitalter". Der Materialist falle einer Täuschung zum Opfer: "Es gibt allerdings eine allbekannte Theorie, nach der die 'materiellen Produktions­verhältnisse' den 'gesamten sozialen, politischen und geistigen Lebens­prozess' bestimmen sollen: die Kämpfe der Völker drehen sich nur scheinbar um Fragen des Verfassungs­rechts, der Weltanschauung, der Religion, und diese ideologisch sekundären Motive verhüllen wie Mäntel das wirkliche primäre Grundmotiv der wirtschaftlichen Gegensätze. Aber dieser extreme Materia­lismus ist selber eine grössere Ideologie als die verstiegensten idealistischen Systeme, die je ersonnen worden sind." Und nun kommt die Schaubühne Berlin mit ihrer Uraufführung zu Lenin, dem harten Verfechter des "dialektischen Materia­lismus", und belegt, dass Friedell recht hatte.

 

Man kann alles richtig machen: Das richtige Schauspieler­material auf die Bühne bringen; es technisch einwandfrei einsetzen; das Spiel gleichzeitig unten produzieren und oben auf die Leinwand projizieren, so dass die Forderung nach dialektischer Brechung erfüllt wird; man kann auratische Requisiten im Raum verteilen - etwa einen pfeifenden Mittelwellenempfänger der Marke Nordmende, eine freistehende Emailbadewanne oder ein schwarzes Schnur­telefon mit Bakelithörer; man kann auf diese Gegenstände mit virtuos geführten Handkameras vor stupend beleuchteter natura­listischer Filmkulisse heranzoomen (Bühnenbild Anton Lukas, Video Kevin Graber); man kann die Figuren in jene typisch russischen Kostüme stecken, in denen sie uns die Geschichte auf den alten Schwarzweiss-Fotografien überliefert hat (Kostüme Silvie Naunheim); man kann Musik vom 18. zum 20. Jahrhundert einblenden, dazu Donner- und Wind­geräusche; man kann einen ganzen Abend lang dies und jenes dazubringen, und doch hebt die Sache nicht ab.

 

Da zeigt sich, dass es nicht genügt, alles richtig zu machen. Es muss noch etwas hinzukommen. Und was das ist, erklärt der Göttinger Physiker Georg Christoph Lichtenberg: "Es muss ein Spiritus rector in einem Buch sein oder es ist keinen Heller wert." – Was im Fall von "Lenin" fehlt, ist der Dichter. Das Wort ist heute ausgestorben wie der Mensch, den es bezeichnete. Kein Kollektiv indes kann das unheimlich begabte Einzelwesen ersetzen. Denn trotz Thomas Gordons vielgerühmter "Weisheit der Gruppe" kommen Milo Rau und sein Ensemble nicht weit. Mehr, als eine Situation ins Bild zu setzen, verstehen sie nicht. Egon Friedell hätte gejauchzt: "Der Denker ist die ungeheure geheimnisvolle Fatalität, er ist die Revolution, die wahre und wirksame neben hundert wesenlosen und falschen."

 

Die Situation, die Milo Rau und sein Ensemble bei unaufhörlich bewegter Drehbühne entrollen, ist ein Tag im Leben Lenins zwischen einem ersten Infarkt, der dem Morgengrauen voranging, und einem zweiten, der sich auf den Abend hin einstellt. Der Zerfall des Revolutionshelden wird mit dem Zerfall der Revolutionsideale in Parallele gesetzt. Und am Ende ist klar: Mit dem "neuen Menschen" ist es aus. Jetzt bringt Stalin eine Phase von Bürokratie, Mediokrität, Mord und Terror.

 

Doch dieser Schluss genügt nicht, um durch eine zweistündige Spieldauer zu tragen. Schon nur, weil die Produktion das Gesetz vom Wechsel der Töne vernachlässigt, das den Dichtern heilig war. Bei "Lenin" geht alles seinen schweren, gleichmässigen Gang. Es fehlt das Spiel mit Farbe, Tempo, Beschleunigung, Verlangsamung, Anziehen und Lockerung der Schraube, Umschlag, Entlarvung der Charaktere, kurz, es fehlt der souverän waltende dichterische Geist. - Ist er am Werk, kann die historische Marginalie eines obskuren schottischen Usurpators die Bühne erobern und sich darauf halten bis in alle Ewigkeit. Zur Zeit wird "Macbeth" im Pariser Odéon unter der Regie von Stéphane Braunschweig umjubelt. "Lenin" aber hat, wie Alfred Kerr festzustellen beliebte, den "Ewigkeitszug" nicht.

 

In Berlin mag die Produktion manche Assonanzen wecken. Sobald aber die Namen Lenin, Trotzki, Stalin vergessen sein werden wie die Namen Legendre, Lacroix, Barère, wird das Stück - im Gegensatz zu "Dantons Tod" – keine Chance mehr haben. Es zehrt nämlich bloss parasitär von den geschichtlichen Erinnerungen, die es mobilisiert. Dies im Unterschied zu Argan, Oronte, Rustan, Rodogune, Gina Ekdal, Osvald Alving, die uns immer noch erreichen und bewegen, obwohl wir von ihnen nicht gehört hatten, bevor die Aufführung begann. Dasselbe gilt für Bernhardi, Schreimann, Tugendvetter. Die Schaubühne hat's vor kurzem gezeigt. Bei "Lenin" aber mit seinen historischen klingenden Namen trägt das Stück nicht. Und warum? Weil das Theater nicht ohne Spiritus rector auskommt. Dazu liefert die Schaubühne den Beweis.

Die Figuren stecken in den überlieferten typisch russischen Kostümen.

Dem Zerfall Lenins entspricht der Zerfall der Revolutionsideale.

Was unten gespielt wird, wird auf die Leinwand projiziert.

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