Gertrud. Einar Schleef/Jakob Fedler.
Schauspiel.
Jakob Fedler. Deutsches Theater Berlin.
Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 8. März 2018.
An Einar Schleefs Roman sind zwei Dinge unheimlich. Zunächst einmal das Sujet. Der Autor kriecht in seine Mutter und hält fest, was sie vor sich hinsagt und -denkt: "Ich bin dicker geworden. Ich quäle mich. Ich werde im Haus bleiben. Ich schalte kein Licht ein." Ich, ich, ich, sagt die Frau, und glaubt sich allein. Aber ihr Sohn ist in ihr und saugt alles auf, was ihr in der einsamen Morgenstunde durch den Kopf geht, um es schliesslich in der Sprache niederzulegen. Damit bringt der Sohn die Mutter zur Welt, lange, nachdem sie ihn zur Welt gebracht hat. Die literarische Geburt der Mutter entspricht in ihrer Intimität Arthur Schnitzlers "Leutnant Gustl".
Und gleich wie Leutnant Gustl kommt uns auch Gertrud Schleef allein durch Sprache entgegen. Und da passiert die zweite Unheimlichkeit: In dieser Sprache hören wir nämlich nicht einen Menschen reden, sondern nur die Epoche, in der er lebt. Wir kennen das Phänomen vom Betrachten alter Fotos, wo sich zeigt, dass das Objektiv das Subjektive nicht einzufangen vermag. Wir sehen zwar die Kleidung, den Haarschnitt, den Ausdruck, die Haltung eines Menschen, erkennen aber darin nicht das Individuum, sondern das Zeittypische. Vermutlich weil sich das Eigene nie entwickelt hat und sich der Mensch stattdessen von seiner Zeit hat prägen lassen. Für diese Erklärung spricht, dass Kinder in ihrer Person und Befindlichkeit erkennbarer sind und auf alten Fotos stets lebensvoller wirken als die Erwachsenen.
Gertrud Schleef aber ist, wenn sie im Roman auftaucht, kein Kind mehr, sondern eine erwachsene, leidgeprüfte Frau. Durchs Leid indes kam sie nicht zu sich, sondern bloss weiter in die zeit- und gesellschaftstypischen Posen, wie wenn ihr das soziale Konstrukt des Über-Ichs den Halt hätte geben sollen, den sie in sich nicht fand. Damit realisiert sich in Einar Schleefs Porträt der Mutter, in dem sie durch eine Sprache zur Darstellung kommt, die nicht die ihre ist, ein Akt tiefer Zuwendung. Im Ungesagten erkennt der Sohn, was Gertud ums Aufblühen brachte: Es ist die Gewalt der geschichtlichen Abläufe. Sie richten den einzelnen durch gesellschaftliche Zwänge dermassen ab, dass in der Sprache nicht mehr das Ich, sondern das Man zum Ausdruck kommt. Als sprachliches Subjekt aber drückt das Ich nur noch eine Lage aus, nicht einen Menschen: "Meine Kindheit fiel ins Kaiserreich, der Sportplatz in der Weimaraner, die Ehe auf Hitler und das Alter in die DDR. Wohin mein Kopf. Das 1000jährige Gottesreich erleb ich nimmer."
Regisseur Jakob Fedler hat den fünfhundertseitigen Roman fürs Theater bearbeitet. Er lässt den Text, wie man das heute macht, durch drei Personen sprechen, manchmal abwechselnd, manchmal monologisch, manchmal synchron. Auf der Bühne stehen eine 29jährige, eine 63jährige und ein 56jähriger. Dem Gesetz der Abwechslung folgend, bewegen sie sich während ihres Vortrags in einer abstrakten, zuweilen leicht illustrativen Choreographie, die zum Text zwar nichts bringt, ihm aber auch nichts wegnimmt, wie man das heute eben so macht, von der Koblenzer Kufa zu den Könizer Vidmarhallen und vom Schauspielhaus Bochum zu den Kammerspielen des Deutschen Theaters. Damit ist die Inszenierung unbedeutend im positiven Sinn. Sie beschäftigt das Auge, ohne die Wiedergabe des Texts zu stören.
Das Desaster kommt von einer andern Seite: Aus dem Mund der Schauspielerinnen. Antonia Bill und Almut Zilcher können nicht sprechen. Sie haben eine eklatante, im Fall der Bill gar eine alarmierende S-Schwäche, die auch ausstrahlt auf die Frikativen F und W. So sagen die beiden denn "Beden" statt "Besen", "hüppen" statt "hüpfen", "Angerauen" statt "Sangershausen", "Frau Schleh" statt "Frau Schleef". Und das in einem Stück, das durch die Sprache lebt. Es ist zum Weinen. Dramaturgie (Ulrich Beck), Intendanz (Ulrich Khuon), wo sind die Ohren?
Auf der Bühne besteht Gertrud aus drei Personen.