"Nach der aufkommenden Frauenbewegung erkannte man den weiblichen Diskurs". © Annette Boutellier. 

 

 

 

Malina. Ingeborg Bachmann.

Schauspiel (Fassung: Marie-Thérèse Krempl).

Mizgin Bilmen, Kim Zumstein, Alexander Djurkov Hotter. Konzert Theater Bern.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 18. Januar 2018.

 

 

Die Vorstellung beginnt im Finstern. Eine weibliche Stimme trägt aus dem Lautsprecher die Sage von einer urzeitlichen Prinzessin vor: "Die Prinzessin war sehr jung und sehr schön und sie hatte einen Rappen, auf dem sie allen anderen vorausflog." Vom Heer der Ungarn wird sie überwältigt und gefangengenommen. Da erscheint ihr nachts ein schwarzgewande­ter Unbekannter. Er legt "zwei Finger auf den Mund", und schweigend suchen sie das Weite.

 

Die Geschichte, die Ingeborg Bachmann erzählt, hat der Berner Patrizier Karl Viktor von Bonstetten am eigenen Leib erfahren, als er 1773 das 21jährige Genie Johannes Müller kennenlernte: "... er ist es, den ich so sehr gesucht habe – Wir umarmen uns. Es ist wir. Bestimmt waren Sie irgendeine schöne Prinzessin, und ich irgendein schöner Prinz, vor ein paar hunderttausend Jahrhunderten durchliefen wir die Welt, – Wir sahen uns am Hof irgendeines Königs oder in der einsamen Höhle eines ehrwürdigen Einsiedlers – Wo, während der Himmel in Flammen stand und der Donner auf den Felsen widerhallte und im Waldesdunkel – liebten wir uns – Und stiegen wieder aufs Pferd und verschwan­den, uns unablässig suchend – und fanden uns schliesslich in der Gestalt von Müller und Bonstetten. - Ja, mein lieber Freund, ich liebe Sie."

 

Wie die Briefstelle vom 14. Mai 1773 belegt, spielt die sexuelle Ausrichtung keine Rolle: Prinz und Prinzessin, seit Urzeiten für einander bestimmt und dann getrennt, einander durch Ewigkeiten hindurch suchend und in zeitenüberdauernder Treue wartend auf den Tag der Wiedervereinigung – Ingeborg Bachmann hat nicht bloss eine Sage niedergeschrieben, sondern einen Archetypus.

 

Nach fünf, sechs Minuten geht auf der Bühne das Licht an und führt uns in die Gegenwart der Schriftstellerin. Sie sitzt an einer alten mechanischen Schreibmaschine und tippt. Ein schwarzes Schnurtelefon gibt es auch, und ein Grammophon, wo der Tonarm unter Knistern die Auftrittsarie der "Carmen" abspielt: "Die Liebe ist ein ungebärdiger Vogel, den niemand zähmen kann." (L'amour est un oiseau rebelle / Que nul ne peut apprivoiser.) "Malina", Ingeborg Bachmanns letzter Roman, führt die Schrift­stellerin als Zerrissene vor. Sie leidet am Alltag und an der Alltäglichkeit der Beziehungen. Sie schwankt zwischen Resignation und Trotz, und wird dann wieder vorangetrieben von der Sehnsucht nach dem alten Lied: "Mann und Weib und Weib und Mann / Reichen an die Gottheit an." (Die Zauberflöte)

 

Die Bühne (Kim Zumstein) zeigt das sehr schön. Die Schrift­stellerin erscheint von Anfang an als gefährdeter Mensch: Sie hängt am Tropf und schiebt den Infusionsständer mit sich durch die Wohnung. Und die Wohnung – das Gehäuse ihrer Seele – bildet kein Ganzes, sondern eine symbolreiche Ansammlung von Fragmenten. Hinten eine Standuhr, die stehengeblieben ist, daneben ein Totenkopf: Mors certa, hora incerta. (Der Tod ist gewiss, die Stunde ungewiss.) In der Bühnenmitte, umgeben von freistehenden, spiegelnden Stelen, die die fragmentierte Welt reflektieren, steht ein Gehäuse aus Büchern, in das sich die Schriftstellerin zum Schreiben zurückzieht. Später wird sie den Bücherturm, der sie schützt, aber auch umschliesst, umwerfen. Gleichwohl wird sie allein und unverstanden bleiben wie zuvor. Die Vorstellung mündet aus ins endlose Klingeln eines Telefons. Kein Anschluss unter dieser Nummer.

 

Sinnreich wie das Bühnenbild sind auch die Kostüme (Alexander Djurkov Hotter). Wenn die Darsteller die Kleider ausziehen und nackt voreinander stehen, stecken sie in einem vielfältig zusammengesetzten, fleischfarbenen Trikot, das an die Landsknechts- und Harlekinstracht erinnert und zum Ausdruck bringt, dass die Figuren nicht zu den Sesshaften gehören, sondern zu den Streunenden, und dass sie aus vielen Flecken zusammengesetzt sind. Um das Ganze zusammenzufassen, greift die Dramaturgin Lea Lustenberger für ihren Programmheftbeitrag zum Titel: "Im Spiegelkabinett der Identitäten".

 

Und da befinden wir uns jetzt. Chantal Le Moign verkörpert die Rolle der Schriftstellerin, die mit "Sie" bezeichnet ist, ernsthaft, nobel und mit einem berührenden Ausdruck verwundeter Grazie. Die Männer Stéphane Maeder und Jürg Wisbach erfüllen loyal ihre Pflicht als Stichwortgeber und Utilité (so nannte das Theater bis zur Bachmann-Zeit nicht näher bezeichnete Chargen). Damit ist die Partie aufgestellt. Nun aber kommt's zu dem, was Ivan im Stück seiner Gegenspielerin vorwirft: "Himmel, was machst du denn mit deinem Läufer, bitte überleg dir diesen Zug noch einmal. Du spielst ohne Plan, du bringst deine Figuren nicht ins Spiel, deine Dame ist schon wieder immobil." Und so kann sich die Partie auf der Bühne nicht entwickeln. Das Spiel wirkt planlos. Die Dame ist immobil. Die Aufführung kommt nicht vom Fleck. Und nach einer Viertelstunde ist klar: "Ça ne fonctionne pas!" (Hugues Gall)

 

Zunächst einmal, sagen die Kenner, liegt das an der Fassung von Marie-Thérèse Krempl, die das Ironisch-Doppelbödige, und auch das herrlich Sarkastische, der Romanvorlage unterschlägt. Damit gebricht es der Aufführung am Wechsel der Töne. Ungebremst und unwidersprochen breitet sich der Gestus der Klage aus. Weltschmerz um 1970. Bei dieser Aufführung begreift man die Reaktion der Zeitgenossen: "Die Kritik hatte unmittelbar nach Erscheinen des Romans vielfach von einem Scheitern der Autorin gesprochen, von einem 'preziösen Seelen-Exhibitionis­mus' war die Rede, und auf viele wirkte das Werk in der politisierten Atmosphäre der Studentenbewegung geradezu anachronistisch. [...] Erst in den späten siebziger Jahren, vor dem Hintergrund der aufkommenden Frauenbewegung, erkannte man den weiblichen Diskurs, der diesem Werk immanent ist." (Heinz Vestner)

 

Ob jetzt aber "Diskurs" oder "Seelen-Exhibitionismus" – in Bern ist "Malina" zunächst einmal ein Zustand, und als Stagnation wird das Stück von Mizgin Bilmen auch inszeniert. Damit fehlt es dem Spiel an Verlangsamung und Beschleunigung. Es fehlen Gegensätze, unterschiedliche Klimazonen. Deshalb entwickelt sich kein Sog, keine Intensität. Immerzu sitzt man redlichem Bemühn gegenüber: Sauber gedacht, sauber geführt, sauber dargestellt. Insgesamt also Grade C nach Bologna: "Gute und solide Arbeit, aber mit einigen Mängeln."

Der Bücherturm ist eingestürzt.

 
 
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