Der Zwang zur Illustration würgt den Rhythmus der szenischen Wiedergabe ab. © Tanja Dorendorf T+T.

 

 

 

Die Toten. Christian Kracht.

Schauspiel.                  

Claudia Meyer, Michael Wilhelmi. Konzert Theater Bern.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 22. Dezember 2017.

 

 

Die Krux liegt im Konzept. Wenn von einem Hasen gesprochen wird, zeigt die Leinwand, wie ein Hase übers Gras hoppelt. Wenn die Rede auf Japan fällt, führt uns die Kamera ins verwirrende, vielgestaltige Tokio. Und wenn gesagt wird, dass zwei miteinander schlafen, zeigt die Leinwand ihre nackten Körper beim Schmusen und Ficken.

 

Der Zwang zur Illustration – das heisst zur Verdoppelung des Gesagten – würgt aber den Rhythmus der szenischen Wiedergabe ab. Denn der Film hat sein eigenes, starres, um nicht zu sagen: stures Tempo. Es lässt sich weder verlangsamen noch beschleunigen. Zusammen mit der Tonspur von Michael Wilhelmi legt er mit seelenlos-metronomischer Kälte schon so viel fest, dass die vier Schauspieler ihren eigenen Atem nicht mehr finden und vor allem, will es mir scheinen, sich nicht mehr entfalten können. Das Konzept engt das lebendige Spiel ein. Da liegt die Krux.

 

Arg sedierend wirkt sich auch die Sprache der Vorlage aus (Fassung Claudia Meyer). Durch indirekte Rede und Konjunktiv Präsens rückt sie das Gesagte dergestalt von uns weg, dass die Schauspieler nicht mehr Darsteller sind, sondern nur noch Vorleser, Berichterstatter und Kommentatoren: "Gleich nachdem die hellgeschliffene Spitze des Dolchs die Bauchbinde und die darunterliegende feine weisse Bauchhaut angeritzt hatte, deren sanfte Wölbung von nur wenigen schwarzen Schamhaaren umspielt wurde, glitt die Klinge schon durchs weiche Gewebe in die Eingeweide des Mannes hinein – und eine Blutfontäne spritzte seitwärts zur unendlich zart getuschten kakejiku, zur Bildrolle hin. [...] Er regte an, man möge doch bitte rasch aus Deutschland Fachleute schicken, die bereit seien, mit den exzellenten Objektiven von Carl Zeiss und dem allem überlegenen Agfa-Filmverfahren in Japan zu wirken, hier zu drehen, zu produzieren, und so dem – wenn man das so sagen könne – allmächtig erscheinenden US-amerikanischen Kulturimperialismus entgegenzuarbeiten, dessen Ausformungen sich virengleich über das Kaiserreich der Showa-Herrschaft ausgebreitet hätten, vor allem im Kino, und dadurch natürlich auf der Strasse und im Volk." (Man beachte, dass das Zitat nur aus zwei Sätzen besteht. So wird in den Vidmar-Hallen gedrechselt!)

 

Die Handlung, so stellt sich das Regisseurin Claudia Meyer vor, wird durch "Reflexion" (d.h. Widerspiegelung durch das Medium des Films) und sprachliche Distanzierungsattitüden "gebrochen". Damit aber bremst sie das Tempo des Theaterabends durch jene betuliche Umständlichkeit, lähmende Gleichförmig­keit und extrem verschwurbelte Literarizität, die in den Fortsetzungsromanen der "Berner Zeitung" zu finden sind.

 

Vor der Uraufführung der "Toten" wird "Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt" vom Intendanten abgefangen: "Zwei Stunden zehn", erklärt Stephan Märki. "Ohne Pause." Ohne Pause? "Ja. Das Ensemble hat sich so entschieden. Bei den Proben gab es so viele Krankheitsausfälle, dass es nicht mehr zu einem Durchlauf reichte. Heute Abend werden 'Die Toten' zum ersten Mal durchgespielt. Darum haben wir auch keine Kürzungen vornehmen können." Märki hält inne. "Aber das soll keine Entschuldigung sein." Ist es nicht. Und eine Erklärung ist es auch nicht.

 

Die Erklärung wird vielmehr durch den Umstand geliefert, dass Regisseurin Claudia Meyer neben der Textfassung auch das Bühnenbild mitverantwortet. "Das kommt nie gut", erklärte kürzlich der 70jährige kommissarische Direktor der Heidelberger Oper aus seinem immensen Berufswissen heraus: "Wenn Regie, Bühnenbild und Kostüme (oder im vorliegenden Fall: Film) in einer Hand zusammenkommen, fehlt der Widerpart, die Kontrolle, die jede Produktion braucht."

 

Da nützt es nichts, dass die Geschichte von Harakiri, Hitler und Hollywood erzählt, dass ein Schweizer Cineast namens Nägeli vorkommt und mit filmhistorischem Personal wie Charles Chaplin, Siegfried Kracauer, Lotte Eisner und Fritz Lang zusammengebracht wird. Das ist "Behang", erklärte Alfred Kerr; "mich aber interessiert das Gerüst!" Und das Gerüst trägt nicht. Da liegt die Krux.

 

Das Aufhübschen der Inszenierung mit süffigem Sound, ästhetisch gelecktem Schwarzweisskino und melancholisch zurückgelassenen Stöckelschuhen im leeren Bühnenraum (ach, sie haben leider nicht das Geringste mit den Sandalen des Empedokles zu tun!) hilft den "Toten" so wenig auf die Beine, wie wenn Cézanne statt Äpfeln Alpenrosen gemalt hätte und statt einer blauen Vase Heimberger Chacheligschirr ins Bild gebracht hätte.

 

Nicht das Sujet entscheidet über die Qualität eines Bildes, nicht die Bedeutung der Person über die Qualität des Porträts. Entscheidend ist allein die Qualität von Konzept und Ausführung. Und da liegt die Krux. "Ja, es ist wirklich ein Elend, wie des Menschen Elend so oft aus nichts entsteht, nur aus unserm Kopf hervorgeht, wie die Welt aus nichts entstanden, nur aus Gottes Willen hervorgegangen ist." (Jeremias Gotthelf)

Da nützt es nichts, dass die Geschichte von Harakiri, Hitler und Hollywood erzählt.

Die Schauspieler sind nur noch Vorleser, Berichterstatter und Kommentatoren.

 
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