Erfreulich: Die Darsteller der zweiten Rollen. © Sabine Burger.

 

 

 

Die lustige Witwe. Franz Lehár.

Operette.                  

Jérôme Pillement, Olivier Tambosi. Theater Orchester Biel Solothurn.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 16. Dezember 2017.

 

 

In München ist vor kurzem das Theater am Gärtnerplatz nach mehrjähriger Bauzeit wiedereröffnet worden. Intendant Josef E. Köpplinger bot den Gästen der Gala (von der bayrischen Staatsregierung an abwärts) eine glanzvolle "lustige Witwe", für deren Inszenierung er selber zeichnete. Alles war da zu sehen: Der Festsaal der pontevedrinischen Botschaft im ersten Akt, der Park der Glawari im zweiten Akt und im dritten Akt das sagenhafte Pariser Nobelrestaurant "Chez Maxim's". Hier wird Graf Danilo umgeben von sieben Grisetten: Nadia, Manon, Fanchon, Suzon, Chonchon, Ninon, Lison. Man kann annehmen, dass die Münchner gleich verzückt der Aufführung folgten wie seinerzeit das Wiesbadener Publikum, das Thomas Mann in seinen "Bekenntnissen des Hochstaplers Felix Krull" zeichnete:

 

"Der Ausdruck dieser Mienen war töricht und wonnig. Ein gemeinsames Lächeln blöder Selbstvergessenheit umspielte alle Lippen, und wenn es bei den kleinen Blumenmädchen süsser und erregter war, bei den Frauen die Eigenart einer mehr schläfrigen und trägen Hingabe aufwies, so sprach es dafür bei den Männern von jenem gerührten und andächtigen Wohlwollen, mit welchem schlichte Väter auf glänzende Söhne blicken, deren Existenz sich weit über ihre eigene erhoben hat und in denen sie die Träume ihrer eigenen Jugend verwirklicht sehen."

 

Doch dann erschienen die Kritiken, und es gab ein böses Erwachen. So naiv und werktreu dürfe man gerade diese Operette nicht mehr bringen, schrieb die deutsche Presse. Die Figur des Njegus sei hochproblematisch und mit geschwärzter Hautfarbe ein Affront gegen alle Menschen nicht-europäischer Herkunft. Den Weibermarsch hätte man streichen müssen, da frauenver­achtend, und die Grisetten weglassen, weil sie die Frauen zum Objekt männlicher Gier degradierten.

 

Bei der Bieler Premiere der "lustige Witwe" mit ihren prominenten Zuschauern (vom Stadtpräsidenten über diverse Gemeinderäte an abwärts) fiel der Beifall zwar genauso frenetisch aus wie in Wiesbaden und München, aber die Menschen konnten erstmals in der 112jährigen Geschichte des Werks, will mir scheinen, mit gutem Gewissen applaudieren, denn Regisseur Olivier Tambosi hatte alle Fallen politischer Unkorrektheit umgangen.

 

Wenn im zweiten Akt das Wort "Neger" fiel, rief ein Schau­spieler entschuldigend dazwischen (und die Übertitelungs­anlage zeigte es an): "Steht so im Libretto von 1905!" Und die Figur des tölpischen Njegus wurde aufs Ensemble verteilt, indem vorgegeben wurde, der Darsteller sei auf der Fahrt von Wien nach Biel verlorengegangen, womit sich durch die Aufführung die Botschaft herausbildete: "Jeder kann der Neger sein!"

 

Der Weibermarsch wurde vor die Pause gesetzt, so dass das Publikum nach der Pause in die Lehre genommen werden konnte: "Meine Damen und Herren, wissen Sie, zu was Sie da eben applaudiert haben?!" Im Sinne der Gendergerechtigkeit wurden nun die Zuschauer umerzogen zum richtigen Bewusstsein: "Wir singen es jetzt richtig. Zuerst die Frauen, dann alle: 'Ja, das Studium der Männer ist leicht ..."

 

Von da an war die Aufführung im politisch korrekten Fahrwasser. Die Grisetten alle gestrichen. Und damit das Theater des Problems enthoben, woher es sieben singende Tänzerinnen hernehmen sollte, die nicht nur eine Stange Geld gekostet hätten, sondern auf der engen Bühne ihre Reize auch gar nicht hätten ausbreiten können (von den Beinen nicht zu reden). So wurde jetzt die Szene aus Raumgründen notgedrungen statisch. Die Herren der pontevedrinischen Botschaft sassen und lagen schmachtend in weissen Tutus zu Füssen der Glawari-Darstellerin und sabberten ins schwarze Mikrofon, das die Frau phallusartig in die Höhe streckte.

 

Zwei Fliegen auf einen Schlag: Das heute geforderte Genderbewusstsein und die von Operette und Publikum immer noch geforderte Boulevardkomik werden gleichzeitig bedient. Männer in Frauenkleidern. Männer in Unterhosen. Männer im Korsett. Männer im Badetuch. Männer ganz nackt, nur die Hand bergend vorm Geschlecht. Männer, Männer, Männer, Männer ... Das kreischende Lachen, das Tante Elsy vor einem halben Jahrhundert bei den Gastspielen der Galas Karsenty im damaligen Kino Capitol aufschlug – die Bielerinnen können es wieder finden dank Olivier Tambosis Inszenierung, und sie brauchen sich dafür nicht zu schämen: Es geht alles politisch ganz korrekt zu; und primitiv ist die Zurschau­stellung auch nicht, denn sie zeigt es, im übertragenen Sinne, den Männern, und den Frauen, im wörtlichen Sinne, auch.

 

Das Unbehagen gegenüber der Frivolität unserer Ur-ur-urgoss­eltern, das Regisseur Olivier Tambosi zum Ausdruck bringt, indem er die "lustige Witwe" problematisiert, bringt jetzt den Ablasshandel von My Climate erstmals, will es mir scheinen, auf die Bretter des Theaters; beides mit dem gleichen perversen Resultat: Je mehr ich fliege, desto besser wird die Luft. Je mehr ich über Unterhosen und nackte Männerbeine lache, desto besser wird unsere moralische Welt. Welch ein Unsinn!

 

Wenn man sich vorstellt, dass "Die lustige Witwe" von Theater Orchester Biel Solothurn bei der deutschen Kritik keine Gnade gefunden hätte und von der Wiener Kritik verrissen worden wäre (man braucht dort gern das Wort "Regie-Klamotte"), ist doch auch denkbar, dass der eine oder andere Kollege des Grossfeuilletons am Jurasüdfuss aufgehorcht hätte. Und das schon, bevor die Vorstellung begann. Das Orchester nämlich stimmte sich hörbar wohlgelaunt ein. Seine Vorfreude führte zu einem satten, präzisen und rhythmisch mitreissenden Operetten­klang, der einen für alles, was die Inszenierung bot, reichlich entschädigte. Und dabei kann Jérôme Pillement – er hat's vor zwei Jahren bei der "Traviata" gezeigt – mehr als Lehár dirigieren. Aber das kann er auch. Seine Interpretation ist überzeugend und, man kann es nicht anders sagen, "sans faille".

 

Auf diesem Niveau sprechen und singen auch die Träger der zweiten Rollen. Allen voran Mario Gremlich als Baron Mirko Zeta, Andrea Jiménez als Valencienne und André Gass als Camille de Roussillon. Die Darsteller von Hanna Glawari (Christiane Boesiger) und Danilo (Christian Manuel Oliveira) setzen sich zwar redlich ein, aber ihre Mittel reichen nicht, um die zweite Garde, wie es die Operette verlangt, schamlos zu übertrumpfen. Und so ereignet sich jetzt nur in der Literatur, nicht aber am Jurasüdfuss, was Felix Krull als bleibenden Eindruck von der "lustigen Witwe" aufbewahrte: "Ja, dies war es: Müller-Rosé [der Danilo-Darsteller] verbreitete Lebensfreude, - wenn anders dies Wort das köstlich schmerzhafte Gefühl von Neid, Sehnsucht, Hoffnung und Liebesdrang bezeichnet, wozu der Anblick des Schönen und Glücklich-Vollkommenen die Menschenseele entzündet." Dieser Funke sprang in Olivier Tambosis Inszenierung nicht. Und er würde sagen: Ich wollte es so!

Die Darsteller der ersten Rollen könnten gesanglich besser sein.

Das köstlich schmerzhafte Gefühl von Neid, Sehnsucht, Hoffnung und Liebesdrang.

 
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