Wahre Befreiung gibt es nur im Märchen. © Philipp Zinniker.

 

 

 

Krabat. Ottfried Preussler.

Schauspiel.                  

Jonathan Loosli, Mathis Künzler, Konstantina Dacheva, Kummerbuben, Bernhard Bieri. Konzert Theater Bern.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 6. Dezember 2017.

 

 

1947 brachte der 38jährige Berner Germanist Max Lüthi, der als Hauptlehrer für Deutsch an der höheren Töchterschule Zürich unterrichtete, beim Francke-Verlag Bern eine Untersuchung heraus, die sich als höchst folgenreich für ihn und die Literaturwissenschaft erwies: "Das europäische Volksmärchen. Form und Wesen." Mit einem Schlag machte die Schrift ihren Verfasser weltbekannt. Er war fortan "der Märchen-Lüthi". Im fernen Kalifornien sprach Archer Taylor, Literaturprofessor an der Universität Berkeley, von einem "brillanten Unternehmen", das "einen markanten Fortschritt" zum Verständnis des Märchens bringe. Der Erfolg war so nachhaltig, dass die Universität Zürich 1968 für Lüthi den Lehrstuhl für europäische Volksliteratur schuf.

 

Das schmale Werk von 114 Seiten, das sich durch seine Klarheit und Verständlichkeit als Muster gelehrter Prosa etabliert hat, schafft mit jedem Satz und jeder Kapitelüberschrift neue Einsichten, so dass der Berner Ordinarius Paul Zinsli seinerzeit im "Bund" zur Feststellung kam: "Das Resultat ist nichts Geringeres als eine umfassende Phänomenologie des Märchens."

 

"Eindimensionalität" lautet das erste Kapitel: "Der Held verwundert sich nicht, und er fürchtet sich nicht: das Gefühl für das Absonderliche fehlt ihm. Es scheint alles zur selben Dimension zu gehören." Das zweite Kapitel ist überschrieben mit "Flächen­haftigkeit": "Was in der Sage tiefgestaffelte Innenwelt und Umwelt ist, wirft das Märchen auf ein und dieselbe Fläche nebeneinander." – Im längsten Kapitel, "Isolation und Allverbundenheit", stellt Lüthi fest: "Die einzige bleibende Verbindung, die der Held eingeht, die Ehe, interessiert das Märchen nur, solange sie wieder getrennt werden kann; ist sie einmal fest und gesichert, so bricht die Erzählung ab. Die Heirat ist nicht Ziel, sondern nur Schlusspunkt des Märchens."

 

Vor diesen Rahmen gehalten, hat Ottfried Preussler mit seinem 1971 erschienenen Jugendbuch "Krabat" ein echtes Märchen geschaffen. (Die Vorlage lieferte auch eine sorbische Sage.) Das Ganze handelt in der "Eindimensionalität": "Das Wunderbare ist dem Märchen nicht fragwürdiger als das Alltägliche." (Lüthi) Es gibt die verhexten Brüder (bzw. Müllergesellen), die in Krähen verwandelt sind, es gibt den bösen Zauberer, es gibt die Erlösung durch die Prinzessin (hier freilich nur ein Mädchen, dafür jenes, das am schönsten singt), und mit der Vereinigung des Helden mit der Jungfrau bricht die Handlung ab.

 

Die Dramatisierung, die das Berner Schauspiel nun als Weihnachtsmärchen vorlegt (merkwürdigerweise unterschlägt das Programmheft den Namen des Bearbeiters) und mit der es die unteren Schulklassen anspricht, bringt jedoch mehr als eine schlichte Erzählung, nämlich einen riesigen, noch nie gesehenen Aufwand an Action. Die Bühne versucht, mit dem Film mitzuhalten, und sie kann's. Nicht genug, dass die Figuren von links und rechts, von vorn und hinten erscheinen wie auf der Leinwand, sie kommen auch aus der Versenkung mitten im Parterre, aus den Proszeniumslogen, aus den Pausenumgängen, und sie erscheinen auch an der Brüstung des dritten Rangs, während der Strahlenkranz des Deckengemäldes magisch aufleuchtet (Licht: Bernhard Bieri). Nicht genug, dass ein Wald von Bäumen vom Schnürboden niedersinkt, an entscheidenden Stellen bewegen sich auch die Zweige auf und ab wie das Gefieder von Vögeln (Bühnenbild: Konstantina Dacheva). Jonathan Loosli und sein Mitregisseur Mathis Künzler bespielen den ganzen Zuschauerraum. Unausgesetzt wenden sich die Köpfe der Kinder in alle Richtungen, unablässig verwandelt sich ein Bild ins nächste. Langeweile kommt da in keiner Sekunde auf.

 

Die Produktion fährt mit derart starkem Drive ein, dass man fürchtet, dem Team könnten im Lauf der zweistündigen Aufführung die Ideen ausgehen. Doch es gelingt allen Beteiligten, das scharfe Tempo durchzuhalten, so dass auch abgebrühte Theatergänger nicht aus dem Staunen kommen über die Bild-, Bewegungs- und Beleuchtungslogistik, die in "Krabat" zum Tragen kommt. Und wenn das Tempo zu erlahmen droht (aber keine Bange, das ist nie der Fall!), tritt die Band der Kummerbuben auf und bringt die Vorstellung mit harten Rhythmen wieder in Schwung.

 

Während aber immer etwas läuft und läuft und läuft, schleicht sich in die Gemüter nachdenklicherer Zuschauer immer unabweislicher das Bedürfnis nach Verlangsamung, Ruhe, Stille und, nun ja, Innigkeit ein. Aber das ist wohl nicht mehr der angemessene Wunsch für eine heutige Kindervorstellung. Da geht es darum, die Unruhe durch unausgesetzte Reize zu bannen, gleich wie der böse Müller seine verzauberten Gesellen unausgesetzt auf Trab hält. Und da zeigt sich, dass die Tentakel einer übermächtigen, ubiquitären, permanent downloadbaren Unterhaltungsindustrie ihr Publikum dermassen fest im Griff haben, dass die zusammengewürfelte Schar der Buben und Mädchen als kompakte Zuschauermasse auf jeden Schlüsselreiz mit dem gewünschten Verhalten antwortet. Ach ja, seufzt der Kulturpessimist: "Hinter der Trommel her / Trotten die Kälber / Das Fell für die Trommel / Liefern sie selber. / Der Schlächter ruft: Die Augen fest geschlossen / Das Kalb marschiert. In ruhig festem Tritt." So zeigt paradoxerweise das Weihnachtsmärchen in Bern, dass es wahre Befreiung nur im Märchen gibt. Nicht im Stadttheater.

Die verhexten Müllergesellen sind in Krähen verwandelt.

Der Schlächter ruft: Die Augen fest geschlossen. Das Kalb marschiert. 

Die Bühne bringt einen nie gesehenen Aufwand an Action. 

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