Hier sind alle verloren. © Elisa Haberer, Opéra National Paris.

 

 

 

Aus einem Totenhaus. Leos Janacek.

Oper.                  

Esa-Pekka Salonen, José Luis Basso, Patrice Chéreau/Peter McClintock/Vincent Huguet, Bertrand Couderc, José Luis Basso. Opéra National de Paris.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 25. November 2017.

 

 

Die Oper wird selten gespielt. Und das hat seinen Grund. Beim "Totenhaus" handelt es sich nämlich um eine reine Männeroper. Frauen kommen da nicht vor, ausser beim kurzen Auftritt einer Prosti­tuierten. Also keine Liebesduette, kein Schmelz, kein Verhau­chen. Damit ist es der Oper schon mal verwehrt, populär zu werden.

 

Dann verlangt sie einen Riesenchor, der mit der tschechischen Sprache zurechtkommt, das heisst mit ihren anstrengenden Zischlauten, verschliffenen Konsonanten und merkwürdig synkopierten Betonungen. Dieser Chor muss sich nun ständig bewegen, mit einem Heer von Figuranten und Schauspielern mischen, die Solisten aufnehmen und sie für einzelne gesangliche Episoden wieder aus sich heraustreten lassen.

 

Deshalb kommen für die Aufführung von Janaceks "Totenhaus" nur Häuser allerersten Rangs in Frage. Und selbst die müssen sich zusammentun, damit sich die Produktion rechnet. Denn nach einer Handvoll Aufführungen ist das Potential an Zuschauern, die sich das Werk zumuten, erschöpft. Und die wenigen, die sich darauf freuen, füllen das Haus nicht einmal zur Premiere. Auch nicht in einer Millionenstadt.

 

So haben sich für die Inszenierung, die gegenwärtig in Paris gezeigt wird, die Wiener Festwochen, das Holland Festival Amsterdam, das Festival von Aix-en-Provence, die Met, die Scala und eben die Pariser Nationaloper zusammengefunden, um die Kosten der Produktion zu teilen. Nicht die Aufführungskosten. Die kommen separat hinzu.

 

Neben Form und Aufwand steht auch der Inhalt langen Aufführungsserien der Oper im Weg. In Paris wurde sie deshalb in den letzten 87 Jahren bis gestern erst 22 Mal gespielt. Die Männer- und Choroper ist nämlich auch eine Gefängnisoper. Sie verlässt Hof und Zellen nie; bietet also keine freie Luft zum Atmen, keinen Lichtblick. Unter diesen Auspizien tourt nun die Gemein­schaftsproduktion der Spitzentheater so langsam durch die Welt, dass unterdessen der Regisseur stirbt.

 

Die szenische Leitung der Pariser Aufführung liegt jetzt in den Händen von Peter McClintock und Vincent Huguet, und auf Englisch heisst ihre Position zynisch und zutreffend zugleich "revival director". - Was da zur "Wiederbelebung" geführt wird, ist eine Inszenierung Patrice Chéreaus (1944-2013), und der Charakter seiner Handschrift zeigt sich auch hier, in seinem vorletzten Werk aus dem Jahr 2007: Die Aufführung ist gleichzeitig wuchtig und sensibel, persönlich und respektvoll. Sie gibt dem Werk Raum, sich zu entfalten, und der Zuschauer erfährt diese Belebung als Hauch, der von der Bühne herüberweht und ihn ergreift. Der Hauch begleitet auch die Gebärde der menschlichen Zuwendung zu den Allergeringsten, die da in Sibirien vom Leben weggesperrt sind, die einen als Gefangene, die andern als Wächter. Für die Welt verloren sind sie alle.

 

Die Eindringlichkeit der Aufführung wird zuerst einmal hervorgerufen durch die aussergewöhnliche Präzision, die alle Faktoren charakterisiert. Und wenn man "Faktoren" definieren kann als "mitwirkende ausschlaggebende Elemente", so ist "Faktor" auf der Bühne alles, was zu hören und zu sehen ist. Zu hören: Das Orchester, geleitet von Esa-Pekka Salonen. Es beginnt mit einzelnen solistischen Figuren, und schon da beeindruckt die Sicherheit, mit der die Partitur bis in die Details hinein gemeistert ist; und aus dieser Sicherheit wächst jetzt der grosse Fluss der musikalischen Erzählung, der nie anekdotisch ist und nie illustrativ; und dieser Fluss wächst aus zum Strom des Lebens, der Zeit und des Todes; und so führt die Aufführung "Aus einem Totenhaus" letzten Endes hinüber in den Bereich der "letzten Dinge".

 

Zu hören ist die Schönheit der Stimmen. Noch nie war der Pariser Opernchor (Leitung: José Luis Basso) eine kompakte Masse, die dem Publikum mit bleierner Wucht die Ohren zudröhnte. Sondern der Pariser Stil entspricht einer Art von akustischem Pointillismus. So auch im "Totenhaus": Die einzelnen, distinkt hörbaren Stimmen vereinigen sich zu einem Gesamtklang, der in luftiger Transparenz die musikalischen Proportionen wiedergibt.

 

Was zu sehen ist: Ungemein scharfes Licht (Bertrand Couderc), das Individuen und Gruppen skulptural herausmeisselt. Und zu sehen ist ein Zusammenspiel, das Solisten, Choristen, Statisten und Schauspieler zur lebendigen Gemeinschaft vereinigt. "Es gibt keine Unterschiede", singt ein Gefangener, "wir sind hier alle gleich".

 

Und damit unterwerfen sich für diesen Bericht "Aus einem Totenhaus" alle Beteiligten einem gemeinsamen Anliegen; angefangen bei Fjodor Dostojewskij, der die Romanvorlage lieferte, über Leos Janacek, der die Komposition schrieb, bis zu Patrice Chéreau, der das Werk inszenierte, Esa-Pekka Salonen, der es dirigiert, und den 150 Mitwirkenden, die es auf der Bühne realisieren. Einheit des Sinns und Einheitlichkeit des Könnens zeichnen mithin die Gefängis-, Chor- und Männeroper in Paris aus und machen sie in jeder Beziehung zu einem seltenen Ereignis.

Das meisterhafte Licht gestaltet den Raum in unterschiedliche Zonen.

Für einzelne Episoden treten die Solisten heraus. 

Hinter den Mauern des Totenhauses bleibt die Freiheit ein Traum.

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