A Christmas Carol. Patrick Barlow/Charles Dickens.
Schauspiel.
Robin Telfer, Marco Brehme, Tanja Liebermann. Theater Orchester Biel Solothurn.
Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 18. November 2017.
Es braucht so wenig! Im Hintergrund eine flache, schwarze Kulisse, die wie ein gezackter Scherenschnitt die markanten Punkte Londons abbildet: Die Umrisse des Big Ben, der Tower Bridge und der St. Paul's Cathedral. Damit ist klar, wo wir uns befinden und wo sich das Weihnachtsmärchen abspielen wird. Der Kenner wird bemerken, dass der schwarze Hintergrundprospekt noch eine weitere Funktion erfüllt; er erweitert optisch durch seine Höhe die engen Bühnenverhältnisse und schafft damit buchstäblich Raum.
In diesen Raum werden ein paar wenige mobile Elemente gesetzt (Bühne: Marco Brehme). Wenn sie gedreht werden, entsteht eine neue Atmosphäre. Statt der grauen, hartgefugten, versteinerten Welt des Wucherers Ebenezer Scrooge taucht die Bühne ins warme Licht herzlicher Festfreude; mit halb ironischem, halb nostalgischem Blinzeln heraufbeschworen durch Weihnachtsmotive im Stil der alten blechernen Biskuitschachteln.
Werden die Elemente verschoben, entsteht durch die veränderte Raumspannung ein neuer Ort, und werden sie entfernt, gibt's Platz für Ensembles und choreographische Einlagen (Damien Liger). So kommen in dieser zurückhaltenden Ausstattung die Kostüme zur Geltung, und durch die Kostüme (Tanja Liebermann) die Figuren und durch die Figuren die unnachahmlich sicher erzählte Geschichte, die längst zum immateriellen Kulturerbe der Menschheit gehört.
Worin der Kern von Charles Dickens' Erzählkunst liegt, hat der grosse Killy vor einem halben Jahrhundert beschrieben. Seine Darstellung ist bis heute nicht überholt. Treten wir deshalb beiseite und überlassen wir ihm das Wort: "Dickens' fast unermesslicher und immer noch anhaltender Erfolg beruht auf der Fähigkeit, die elementaren, ja primitiven Figuren und Konstellationen des Erzählens im wesentlichen unangetastet zu lassen, aber durch Gegenwärtigkeit zu beglaubigen. In einem sich aufgeklärt dünkenden Zeitalter ist für ein lesendes Publikum die ungeschichtliche, immer präsente Gegenwart des Märchens nicht mehr möglich. Viel zu lange hat man die säkularisierenden Wirkungen der Aufklärung nur im Hinblick auf die Glaubensinhalte betrachtet und unbeachtet gelassen, wie sie noch einfachere und frühere Vorstellungen zerstört haben. Dickens gibt seinen Lesern das Märchen zurück, indem er es aktualisiert und damit, wenn man so will, historisiert. Indem das Publikum mit Behagen 'unser England' zu erkennen vermeint, liest es in Wahrheit Märchen. Der Roman leistet, was heute vor allem der Kriminalerzählung vorbehalten ist und was das Märchen zu allen Zeiten geleistet hat: es zeigt die einfachen Bedingungen der Welt und bringt sie, mögen Hindernisse und boshafte Gewalten noch so sehr am Werke sein, schliesslich 'in Ordnung'.
An dieser Stelle ist eine bescheidene Warnung wohl am Platze. Es wäre – und nicht um Dickens' Können willen – verfehlt, wollte man so simplen literarischen Ambitionen hochmütig begegnen. Sie erfüllen ein Bedürfnis, welchem die Literatur zu gutem Teil ihr Leben verdankt; es ist das Bedürfnis, Weltdeutung zu erhalten, nicht in Spekulationen oder mühsam drapierten Symbolismen, auch nicht im unerschöpflichen Anspruch ganz grosser Poesie, sondern in der lebhaften Anschauung einnehmend erzählter Geschichten. Dass sie die Wirklichkeit anders schildern, als unsere Lebenserfahrung sie kennt (welche Fälle belohnter Treue und Tugend 'in Wirklichkeit' nicht zu entdecken vermag), ist kein Einwand. Denn es handelt sich um Weltdeutung nach der Märchenform, die das Unverständliche und Ungerechte zurechtrückt und die Welt nicht deutet, wie sie erscheint, sondern wie sie sein müsste, wenn anders man das Leben überhaupt aushalten soll. Im Märchen erscheinen die reinen Möglichkeiten und die reinen Bedingungen des Daseins unvermischt. Sie sind schwarz – wie die böse Verwandte, die verräterische Schwester, der treulose Bräutigam – oder weiss, wie die unbeirrbare Unschuld, der treue Diener und der wider alle Vernunft gehorsame Held. Das Märchen vernichtet die unreinen Schattierungen der Wirklichkeit, die den Blick beirren; mit ihnen 'vernichtet' es die 'unmoralische Wirklichkeit', um seine eigene an ihre Stelle zu setzen." (Der Literaturwissenschafter Walther Killy wurde 1990 von der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung mit dem Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa ausgezeichnet.)
Die archaische Wucht des Märchens, das Charles Dickens in "A Christmas Carol" erzählt, bringt uns nun das Schauspiel von Biel-Solothurn in einer Weise zur Anschauung und zur Erfahrung, die alle im Zuschauerraum erreicht, von den Jüngsten bis zu den Ältesten. Der scheue Bub der Schneiderin bestätigt nickend, dass ihn die Geschichte gepackt habe. Und ja, geweint habe er auch. Und A.S. aus B. jubelt: "Ich habe zu meinem siebzigsten Geburtstag für meine Freunde diese Vorstellung gekauft. Jetzt, wo ich sie gesehen habe, bin ich froh zu wissen, dass sie allen gefallen wird."
Die erfahrene Theaterfrau hat recht. Der Wucht dieser Aufführung kann sich niemand entziehen. Man verlässt sie aufgewühlt wie nach einer psychotherapeutischen Sitzung und nachdenklich wie nach einem Seminar für philosophische Ethik. Das kommt daher, dass das Märchen schlicht und aufrichtig erzählt wird.
Aber man täusche sich nicht! Diese Wirkung kommt nur zustande, wenn eine sichere Hand das Ganze führt. Das bedeutet proben, proben, proben, bis der letzte falsche Ton aus der Darstellung vertrieben wurde und jeder Moment stimmt. Dann erst bekommt das Spiel seine durchgängige Wahrheit. Dafür braucht es feine Ohren, Gespür fürs Timing, Sinn fürs Plazieren und Bewegen der Schauspieler, kurzum: Intuition, vollendete handwerkliche Meisterschaft und Bescheidenheit gegenüber der Geschichte, die man erzählen will. Regisseur Robin Telfer bringt diese Qualitäten mit und schafft damit einen rauschenden und berauschenden Premierenerfolg.
Doch täuschen wir uns nicht! Den letzten, entscheidenden Schub verdankt die Produktion dem Glücksfall, für die Rolle von Ebenezer Scrooge Jörg Seyer gewonnen haben zu können. Er steht ununterbrochen auf der Bühne, auf seinen Schultern ruht das Ganze. Und wenn er den Weihnachtsgeist fragt: "Ich habe das Gefühl, es gehe hier nur um mich", bestätigt der Geist: "Ja, es geht hier nur um dich." - Doch Jörg Seyer wird dieser gewaltigen Herausforderung spielend gerecht, und zwar in jeder Hinsicht. Bei ihm vereinigen sich makellose Diktion, famose Körperbeherrschung, gewinnende Ausstrahlung, überzeugende Rollengestaltung und mitreissende Spielfreude. Wie im Flow gestaltet er die Härte des Wucherers, seinen Aufstand und seine Wandlung und nimmt uns selber mit in den Flow seines Schicksals. Seyers Geistesgegenwart geht so weit, dass er ein Niesen im Zuschauerraum in sein Spiel aufnimmt und mit "Gesundheit!" quittiert – eine Extrapointe, an die sich die Premierenbesucher noch lange erinnern werden.
Der Erfolg von "A Christmas Carol" zum Jahresende lässt sich als gutes Omen für die Perennität des Theaterwunders am Jurasüdfuss auffassen. Schon hält es zehn Jahre an und macht aus dem kleinsten Stadttheater der Schweiz einen Ort, von dem man immer wieder beglückt nach Hause kommt. Ein schöneres Geschenk kann eine Bühne ihren Zuschauern nicht machen.
Schwarz: Die bösen Verwandten.
Weiss: Die unbeirrbare Unschuld.