Im Stück hört ein alter Mann Tonbänder ab. In Bern: Ein junger. © Philipp Zinniker.

 

 

 

Das letzte Band. Samuel Beckett.

Schauspiel.                  

Johannes Lepper, Sabine Wegmann. Konzert Theater Bern.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 15. November 2017.

 

 

Becketts kurzes Einmannstück, das man als Nachwort zum "Endspiel" auffassen kann, hat Johannes Lepper jetzt auch so inszeniert: In der selben Art von schwarzem Bunker wie letztes Jahr (nur Mansarde statt Vidmar 2), mit der selben Art von überdimensionierter Glühfadenbirne, in die – als Running Gag – der Schauspieler immer wieder sehenden Auges hineinläuft (diesmal nur Nico Delpy statt Arne Lenk), mit der selben Art von halbprofessionellem Spulentonbandgerät (nur jetzt als Mitspieler und nicht bloss als Accessoire), mit der selben Art von kalten Eingriffen (damals fielen ihnen Nagg und Nell zum Opfer, diesmal ein grosser, ich würde sagen: wesentlicher Teil des Spiels, zum Beispiel: "Krapp stellt das Gerät ab, grübelt, schaut auf seine Uhr [!], steht auf und geht zur Hinterbühne, ins Dunkel. Zehn Sekunden. Korkenknall. Zehn Sekunden. Zweiter Korken. Zehn Sekunden. Dritter Korken. Zehn Sekunden. Plötzliches Erklingen eines zittrigen Gesangs. Krapp singt: 'Der Tag ist auf der Neige / es dämmert schon ganz sa-acht, / die Abendschatten –' Hustenanfall. Er kehrt zurück ins Licht, setzt sich, wischt sich den Mund, schaltet an und lauscht wieder"). Vor einem Jahr war eine Rolle von zwei deckend besetzt – Stéphane Maeder als Hamm ("Die Stimme der Kritik": "Eine theatralische Sternstunde"). Diesmal keine (von eins). Zusammen­gefasst können wir sagen: Beim "letzten Band" haben wir es mit einer Verlängerung des letztjährigen Beckett-Approachs zu tun, nicht aber mit einer Steigerung.

 

Fatal wirkt sich aus, dass Nico Delpy um gute dreissig Jahre zu jung ist für die Rolle. Max Reinhardt hat zwar als 21jähriger am Deutschen Theater Berlin unter Otto Brahm mit Altmännerrollen debütiert, aber nicht jeder ist ein Max Reinhardt. Nico Delpy ruft auch den alten Krapp nicht herbei, er zitiert ihn bloss; aber so, wie er immer spielt, mit Dezenz: "Weisses Gesicht. Purpurne Nase. Wirres graues Haar. Unrasiert. Sehr kurzsichtig (aber ohne Brille). Schwerhörig. Krächzende Stimme. Eigentümlicher Tonfall. Mühsamer Gang."

 

Das "weisse Gesicht" entsteht dadurch, dass Delpy aus einer Büchse weisses Pulver streut (im "Endspiel" war es Flohpulver, jetzt bleibt es undefiniert, da von Beckett nicht vorgesehen), und statt der "purpurnen Nase" bindet sich Delpy eine schwarze Clownsnase um. Zusammengefasst lässt sich festhalten: Änderung ja. Stilisierung meinetwegen. Doch Steigerung? Nein.

 

Der Fehler liegt im Konzept. Es setzt zwar die Anlage des Einakters um, verpasst aber den entscheidenden Dreh. Das Stück besteht fast zur Gänze aus Zitaten. Ein alter Mann hört die Tonbänder ab, "auf denen er alljährlich seine Erlebnisse im vergangenen Jahr aufgezeichnet hat, und kommentiert diese Aufzeichnungen immer von neuem – ein sinnloser Kreislauf von längst abgeschlossenen Erfahrungen, vergangenen Beziehungen und irreparablen Fehlschlägen. Schon seit über dreissig Jahren führt Krapp, der erfolglose Schriftsteller, dieses 'Gespräch' mit seinem ihm immer fremder gewordenen Tonband-Ich. Verächtlich lacht er über die Selbsteinschätzung des einstigen Krapp ('Hörte mir soeben den albernen Idioten an, für den ich mich vor dreissig Jahren hielt'), und immer wieder spult er das an seinem 39. Geburtstag aufgenommene Band zurück, um einen glücklichen Augenblick zu rekapitulieren, eine Liebesbeziehung, die - wie man erst beim dritten Mal erfährt – von Anfang an zum Scheitern verurteilt war." (Johann N. Schmidt)

 

Indem nun ein junger Schauspieler den alten Mann spielt, der er nicht ist, ist, notgedrungen, auch sein Spiel Zitat. Die Regie unterstreicht diesen Ansatz durch Kostüm (Sabine Wegmann) und Gebärden, die, in Fragmenten, eine Mischung von weissem Clown und dummem August herbeizitieren. Beckett jedoch setzt diesem sinnleeren Abspulen des längst Abgespulten die harte Wirklichkeit entgegen: "Krapps Bude." Johannes Lepper macht daraus eine Bühne, und Nico Delpy baut sie vor unseren Augen auf. Aber Bühne und Bude sind nicht dasselbe. Im einen Fall ist die (gedachte) Wirklichkeit ("Eines Abends, spät, in der Zukunft.") Bestandteil der Aufführung, im andern Fall nicht. Das Stück konfrontiert Krapps Aufzeichnungen mit der kläglichen Realität, die Aufführung konfrontiert sie bloss mit kläglicher Artistik. Beckett konfrontiert das Reden über die vergangene Zeit mit der Zeit, wo sie am härtesten und wahrsten erscheint, nämlich mit der Gegenwart – dem "degré zéro", dem Nullpunkt, dem "point of now". Lepper dagegen fängt die Erinnerungspirouetten durch ein zirzensisches Ambiente auf und vermeidet damit die Kollision der Literatur mit der Wirklichkeit, auf die das "letzte Band" hinausläuft. So geht die Aufführung am Stück vorbei, und wir merken es daran, dass sie uns nicht packt. Deshalb wird das "letzte Band" in Bern nicht nur inhaltlich, sondern auch faktisch, zum "rendez-vous manqué".

Die Banane kommt immer noch vor.

Aber die Nase ist nicht mehr echt.

 
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