"Sie spielen in lichtscheuen Räumen." (Emil Staiger). © Vincent Pontet.

 

 

 

Haute surveillance. Jean Genet.

Schauspiel.                  

Cédric Gourmelon. Comédie-Française, Paris.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 3. Oktober 2017.

 

 

Am Abend des 6. März hat der 19jährige Marcel H. den neun Jahre alten Nachbarsjungen Jaden mit 52 Messerstichen getötet. Keine 24 Stunden später tötete er auch seinen Bekannten Christopher W., einen Nachbarssohn, bei dem er sich nach der Tat versteckt hatte, mit mindestens 68 Messerstichen. - Als Sandy H. ihren Bruder im Untersuchungsgefängnis Wuppertal besuchte, fragte sie ihn, ob er bereue: "Da hat er mir mit unglaublicher Gleichgültigkeit gesagt: 'Nein!' Auf die Tat war er so stolz wie vorher nie im Leben." Die Schwester erklärte an der Gerichtsverhandlung, der Bruder habe bei dieser Begegnung damit geprahlt, ein "4chan" zu sein. 4chan hiess die Website, die Anhänger eingerichtet hatten, um Marcels Taten zu feiern.

 

Neben dieser Geschichte, die die "Süddeutsche Zeitung" berichtet, erscheint Jean Genets Erstling "Haute surveillance", den er 1949 publizierte, vergleichsweise gemütlich, um nicht zu sagen: human. Zwar kommt auch da ein Mord mit dem Messer zur Sprache, und als Todesstrafe die Enthauptung durch die Guillotine; es gibt die Deportation auf die Gefängnisinsel Guyana, von der die meisten nicht mehr zurückkehren; und am Ende wird gar der schönste und jüngste Häftling auf offener Bühne erwürgt. Und trotzdem wirken die Geschehnisse, die die Comédie-Française auf ihrer Studiobühne vorführt, paradoxerweise eher putzig und folkloristisch als erschütternd und tragisch.

 

Während der fünf Viertelstunden, die die Aufführung dauert, hat man Zeit, darüber nachzudenken, warum uns das Drama heute nicht mehr erreicht; denn obwohl Genet Selbsterlebtes verarbeitet (das Manuskript entstand 1942 in der Haftanstalt von Fresnes) und obwohl er alle Themen bringt, die zu Verbrechen und Zuchthaus gehören, wirkt das Vierpersonen­stück zu lang und zu schlicht.

 

Ein Teil ist der Epoche geschuldet. Als "Haute surveillance" herauskam, konnte Direktor Wehren sen. seine Zuchthäusler noch zum Holzen in den Wald schicken, und am Abend kehrten die Mörder mit ihren Äxten zur Suppe in den Thorberg zurück. Tempi passati. Vorbei auch die Zeit, wo es in Gesellschaft und Theater Tabus gab. Damals genügte es, das Verdrängte auszusprechen, um die heftigsten Reaktionen zu provozieren: "Man gehe die Gegenstände der neueren Romane und Bühnenstücke durch. Sie wimmeln von Psychopathen, von gemeingefährlichen Existenzen, von Scheusslichkeiten grossen Stils und ausgeklügelten Perfidien. Sie spielen in lichtscheuen Räumen und beweisen in allem, was niederträchtig ist, blühende Einbildungskraft." Als er 1966 den Literaturpreis der Stadt Zürich entgegennahm, widersetzte sich Emil Staiger vehement diesem Trend "zum Bizarren, Grotesken und weiter zum Verbrecherischen und Kranken, zum Kranken und Verbre­cherischen, das nun nicht als Widerspiel in unserer Einbil­dungskraft ein wohlgeratenes, höheres Dasein evoziert, das vielmehr um seiner eigenen Reize willen gekostet werden soll und meistens auch gekostet wird." Im selben Jahr lösten Genets "Wände" (Les Paravents) im Pariser Odéon einen solchen Skandal aus, dass sich der Autor aus der Literatur zurückzog und sich dem politischen Kampf der Black Panthers und der Palästinensischen Befreiungsbewegung verschrieb.

 

Weil es in jener Zeit genügte, Tabuthemen auszusprechen, um Aufsehen zu erregen, begnügte sich Genet – auch mangels Handwerk -, sie durch drei Sträflinge in einer Zelle verhandeln zu lassen. Dabei ist keiner von innen her böse. Sondern jeder wurde bloss auf unterschiedliche Weise von Schicksal und Verhängnis heimgesucht. Diabolisch ist hingegen der korrupte Gefangenenwärter, das "Auge des Staates", das auf perverse Weise vom Unglück der Zellengenossen profitiert. Ein Tabubruch mehr. Aber immer noch kein Stück. Sondern lediglich die Ansammlung von Themen zu einem Stück. Um aus ihnen etwas Wirksames gewinnen zu können, das die Zeiten überdauert, hätte Genet das meiste ausscheiden und das Behaltene vertiefen, mit andern Worten: das Schreiben zum (Ver-)Dichten vorantreiben müssen.

 

Auf der Studiobühne der Comédie-Française bringt jetzt Regisseur Cédric Gourmelon die Dialoge auf einem abstrakten Karree in eher andeutendem als dämonisch-mitreissendem Spiel. Die gedämpfte Stillage aber kommt dem Stück nicht zugut. Anderseits ist klar: Hätte man es als naturalistische Studie inszeniert, mit Sträflingskleidern, Blecheimern, Pritschen, zerkritzelten Wänden, Eisentüren und vergitterten Fenstern, hätte die die Handlung vollends das rohe, kunstlos Ungeschlachte der B-Movies erreicht, vor dem Emil Staiger warnend den Finger aufhob, und dem Stück hätte es trotzdem nicht geholfen. Was einmal mehr beweist, wie recht Nicolás Gómez Dávila hatte, als er feststellte: "In den Künsten nennt sich Authentizität die Konvention des Tages."

Am Ende wird der schönste und jüngste Häftling erwürgt.

 
 
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