Miranda. Cordelia Lynn/Henry Purcell.
Oper.
Raphaël Pichon, Katie Mitchell, Chloé Lamford, Sussie Juhlin-Wallen, James Farncombe. Opéra Comique, Paris
Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 3. Oktober 2017.
Im rätselvollen Lucky-Monolog von Becketts "Warten auf Godot", das am 9. Januar 1953 im Pariser Théâtre de Babylone uraufgeführt wurde, findet sich die Zeile: "... und so wie die göttliche Miranda leidet mit denen man weiss nicht warum aber man hat ja Zeit in der Folterkammer ..." Bis gestern blieb die Ursache von Mirandas Leiden unaufgelöst. Jetzt erklärt sie eine Oper, die in den letzten Septembertagen dieses Jahres an der Pariser Opéra Comique zur Uraufführung kam. Zu Beginn des Vorspiels klagt eine junge Frau: "Ich wurde ins Exil verstossen. Ich wurde vergewaltigt. Ich wurde zu früh verheiratet." (I was exiled. / I was raped. / I was a child bride.) Dann erhellt sich die Bühne. Sie zeigt den Innenraum einer Kirche an der Küste von Suffolk (Bühnenbild Chloé Lamford). Sie ist im Stil der sechziger Jahre gehalten: nackter, kantiger Beton, nüchterne Modernität. Eine Trauerfeier wird stattfinden. Die Kirchendiener singen: "Miranda ist tot. Sie ist ertrunken, so tief, dass ihr Körper nie gefunden wurde ..."
Die Trauergemeinde tritt ein, in Gegenwartskleidung (Kostüme Sussie Juhlin-Wallen). Man erkennt gleich, wer wer ist und wie die einzelnen zueinander stehen, dank der ungemein präzisen Personenführung von Katie Mitchell, die sich in der Bewegungsregie von Joseph Alford unterstützen liess, so dass nun jede Gebärde und jeder Blick etwas sagt. Ein leerer Sarg wird hereingetragen und vor dem Altar niedergelegt. Auf einen Wink des Pfarrers erhebt sich die Gemeinde zum Gebet. Im Zuschauerraum haben alle schon diese Situation erlebt. Und so kann sich niemand der Wirkung der kirchlichen Zeremonie entziehen.
Durch Vergegenwärtigung bringt uns das Produktionsteam nicht nur den Tod nahe, sondern auch eine uralte, beinah schon mythologische Geschichte, die bis zu Shakespeares "Sturm" zurückreicht (Uraufführung 1611). In heutigem Rahmen werden Mirandas Leiden wieder lebendig, und mit ihnen auch viele Kompositionen aus Henry Purcells reichem Werk. Zu über vierzig Stücken – darunter mehrere Shakespeare-Dramen – hat der Komponist, der zwischen 1659 und 1695 lebte, die Bühnenmusik geschrieben. Dieser Zweig seines Schaffens ist in Vergessenheit geraten.
"Unsere Hauptidee bestand darin", erklärt der Dirigent Raphaël Pichon, "diesem ausserordentlichen Repertoire zur Existenz zu verhelfen und es wieder seinem ursprünglichen Zweck [Bühnenmusik] zuzuführen". Die Librettistin Cordelia Lynn baute dafür eine Handlung, die es erlaubte, dreissig Stücke Purcells wiederzubeleben, dazu vier von Matthew Locke und je eines von Jeremiah Clarke und Orlando Gibbons.
So wird nun diese Quasi-Uraufführung doppelt packend: Zunächst durch den stofflichen Aspekt der Darstellung von Mirandas Leiden, die zum ersten Mal aus Frauenperspektive geschildert werden; dann durch die ästhetische Faszination, alte Kompositionsweisen so lebendig zu machen, dass sie uns wieder zu packen vermögen. Das Produktionsteam hat erkannt, wie entscheidend der Kontext ist. Die Gravität der barocken Prosodie wirkt dem Anlass völlig angemessen, wenn sie als Beitrag zu einer Trauerfeier inszeniert wird. Der Vater der Verstorbenen schreitet ans Pult, nimmt ein gefaltetes Blatt hervor, streicht es glatt und beginnt dann vorzutragen: "Hosianna dem Allerhöchsten! Heil diesem himmlischen Kind und dieser heiligen Braut!" Die geistliche Hymne wird im modernen Raum gegenwärtig, und die Aufführung beginnt mit Purcell zu spielen. Und Purcell mit uns. Eine höhere Dialektik entfaltet sich da mit beeindruckender Subtilität. Wenn Purcell eine Verwandlungsbühne verlangte, so werden nun die Verwandlungen herbeigeführt durch Umsturz der Situation, der Atmosphäre und der Beleuchtung (Licht James Farncombe). Damit erreicht die Opéra Comique das höchste, was Theater zu leisten vermag. Und wenn es sich einstellt, "Dann ist Vergangenheit beständig, / Das Künftige voraus lebendig, / Der Augenblick ist Ewigkeit." So beschrieb es Goethe in seinem "Vermächtnis".
Unversehens kippt die Situation ...
... und führt in ein höllisches Maskenspiel.