Bühnenbild und Regie liefern genau gesetzte schräge Akzente. © Sabine Burger.

 

 

 

Wir sind hundert. Jonas Hassen Khemiri.

Schauspiel.                  

Franz-Xaver Mayr, Michaela Flück. Theater Orchester Biel Solothurn.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 23. September 2017.

 

 

Das Stück zeichnet den Verlauf eines durchschnittlichen Lebens nach: Von der Geburt bis zu Alter und Tod. Seine Stationen sind uns vertraut: Pubertät, Berufswahl, Verliebtheit, Karriere, Familiengründung, Seitensprung, beruflicher Rückschlag, nahendes Alter, Wortfindungsschwierigkeiten, Angst vor Abbau und Demenz. Immer wieder kommt im Schnelldurchlauf durch diese Durchschnittsbiographie die Frage auf, ob es sich gelohnt habe, "für das" am Leben zu bleiben; ob man nicht "etwas ganz anderes" hätte anstreben sollen; ob es nicht besser gewesen wäre, der Sache mit einem Sprung vom Dach "ein Ende zu setzen".

 

Die gedämpfte Amplitude, unter der das bürgerlich-mittel­ständische Leben verläuft, hat Regisseur Franz-Xaver Mayr zurückhaltend in Szene gesetzt. Sparsame, aber genau getaktete schräge Effekte geben der melancholisch-versonnenen Handlung hie und da Biss und erweitern das Spektrum der Gefühle, die "Wir sind hundert" anbietet, um die Momente des Erschreckens, der Erleichterung, des Staunens und des Humors.

 

Während die Regie die Gefahr der Konturlosigkeit durch schärfende und zuspitzende Interventionen abwendet, verscheucht Bühnen- und Kostümbildnerin Michaela Flück ihrerseits die Gefahr der Farblosigkeit durch genau gesetzte schräge Akzente. Auf diese Weise kommt ein angenehm unterhaltsamer Abend zustande, den man nicht ohne Nachdenk­lichkeit verlässt: "Das also soll's gewesen sein", sagt man zu sich, und meint eigentlich weniger das Stück des schwedischen Erfolgsautors als die eigene Biographie.

 

Auf der Bühne wird die Biographie der vereinigten Durch­schnittsmenge mitteleuropäischer Ichs, in der sich die meisten Zuschauer wiederfinden, durch drei Frauen vorgetragen: Einer alten (Barbara Grimm), einer mittleren (Atina Tabé) und einer jungen (Tatjana Sebben). Dieses Mittel erlaubt es dem Verfasser, die Indentifikationsmöglichkeiten zu verdreifachen. Die Alte bringt die mütterlich-stützende, manchmal auch etwas danebenstehende Funktion ins Spiel. Die Mittlere das Energisch-Lebenszugewandte. Und die Junge die skeptisch-betrachtende, moralisch-wertende Dimension. Damit bieten die drei Frauen ein dynamisch-bewegtes Panorama von Seinsmöglichkeiten und Betrachtungsperspektiven an.

 

In dieser Trinitas heutiger Weiblichkeit sind die drei Schauspielerinnen unterschiedlich und doch eins. An ihrer Einheit im Verschiedenen zeigt sich die genaue, fein regulierende Hand des Regisseurs. Franz-Xaver Mayr gelingt es auch, Atina Tabé auf eine bisher unerreichte Höhe des Spiels zu führen: Sie soll die Glanzlichter liefern – und kann's. Makellose Bewältigung des Parts in jedem Moment. Keine Ist-Soll-Diskrepanz mehr. Alles bewältigt. Wenn wir das nur von unserem Leben auch sagen könnten!

Die drei sind in Wirklichkeit eins.

 
 
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